Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
seinem offen stehenden Mantel. Hier in Devon waren die Winter zu Anfang eher mild; erst Ende Januar, Anfang Februar würde es bitterkalt werden, vielleicht würde es sogar schneien.
Bella, eine steingraue Weimaranerhündin und sein Liebling, setzte sich hin und schnupperte in den Wind, und mit einem furchtsamen Ausdruck richtete sie ihre bernsteinfarbenen Augen auf ihn und winselte leise. Der Earl bückte sich und strich ihr zärtlich über den Kopf. »Ist gut, mein Mädchen. Ist doch alles gut.« Bella blickte zweifelnd drein, als wüsste sie, dass er sie belog, gab sich dann aber doch einen Ruck und trabte der Meute hinterher. Der Earl hätte gern einen herumliegenden Ast aufgehoben und seinen Hunden zum Spielen zugeworfen, aber die Kraft dafür brachte er nicht mehr auf. Seine Glieder fühlten sich an wie mit Blei ausgegossen. Mühsam setzte er einen Schritt vor den anderen und ließ sich dann erleichtert auf den Felsblock fallen, der auf dem höchsten Punkt der Klippen lag.
Reglos blieb er sitzen, sah seinen Hunden zu, wie sie vergnügt nacheinander schnappten und sich balgten und sich im Gras wälzten. Jackson würde sich gewiss gut um sie kümmern, wie er das immer getan hatte. Sofern er seine Stellung behielt. Jackson, dem er als Einzigem Bescheid gesagt hatte, wohin er ging und wann er ihn zurückerwarten könnte. Die Trennung von seinen Hunden fiel dem Earl am schwersten, aber sie mitzunehmen – das brachte er nicht übers Herz.
Er sah hinaus aufs Meer. Dies war seine Heimat, hier warer geboren und aufgewachsen. Hier lagen seine Wurzeln, über Generationen hinweg. Wurzeln, die ihm schon lange keinen Halt mehr boten. Abgestorben waren sie, vor langer Zeit schon. Wie der Rest von ihm.
Früher einmal, da hatte er gelebt; gelebt und geliebt. Bei Gott, wie hatte er Evelyn geliebt. So schön, wie sie war, so selbstbewusst und so schlagfertig und von sprühendem Temperament. Ein romantischer Narr war er gewesen, zu glauben, sie würde ihn ebenso lieben können, wenn er ihr nur genug gab. Genug Zärtlichkeit. Genug Leidenschaft. Genug Hingabe. Alles, was er war, alles, was er besaß, hatte er ihr zu Füßen gelegt. Und nichts, nichts war ihr gut genug gewesen, und nichts hatte sie je erweichen können. Noch nicht einmal die Kinder, die sie ihm geboren hatte, die fünf Enkelkinder, die ihre Töchter ihnen inzwischen geschenkt hatten. Wie Wind und Wellen den Stein der Klippen unter ihm über die Zeit abgeschmirgelt hatten, so hatten Evelyns Kälte und ihre Gleichgültigkeit ihn ausgehöhlt, mit jedem Jahr ihrer vierunddreißig Jahre währenden Ehe ein kleines bisschen mehr.
Es war gut gewesen, sie alle an Weihnachten noch einmal um sich zu haben. Sich davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht mehr brauchten, dass sie längst ihre eigenen Leben führten, sogar Roderick, der Jüngste, der gerade an seinem Doktortitel arbeitete. Allein Royston hatte er schmerzlich vermisst. Royston, der ihm so ähnlich war, nur stärker, nur lebenslustiger, sein Erbe und sein Nachfolger. Falls er aus dem Sudan zurückkehrte. Unerträglich war es, bei jedem Brief, bei jedem Telegramm, die auf Ashcombe House eintrafen, eine Todesnachricht fürchten zu müssen. Und noch unerträglicher war es, gar keine Nachricht zu erhalten.
Der Earl war müde. Entsetzlich müde. Er sehnte sich nach einem tiefen, dunklen Schlaf, in dem er nichts mehr fühlen musste. Nichts mehr erdulden und nichts mehr fürchten. Nie mehr. Da war ein Sehnen, dem zu widerstehen er nicht mehr die Kraft hatte. Der Lockruf, der ihm ewige Ruhe, ewigen Frieden versprach, war übermächtig.
Er griff in die Manteltasche und holte das gewichtige Stoffbündel heraus, legte es auf seine Knie. Sorgsam wickelte er es auf und nahm die Waffe heraus, die er heute Morgen sorgfältig gereinigt und geprüft und geladen hatte. Seine Augen waren auf das Meer vor ihm gerichtet, auf die feine Linie, wo Wasser und Himmel aufeinandertrafen. Dann öffnete er den Mund, steckte den Lauf der Pistole hinein, presste die Mündung gegen seinen Gaumen und drückte ab.
28
In der Vorstellung der Menschheit gehört der Nil so untrennbar, so ewig zu Ägypten wie die Pyramiden und die Sphinx. Tatsächlich jedoch gehört der Nil zum Sudan. Der Nil nämlich, blau das eine halbe Jahr und braun das andere, der die Wiege der alten Kulturen Ägyptens war und der das Land am Blühen hält, ist die Nabelschnur, mit der Mutter Sudan ihr Kind im Norden ernährt.
Aus den Tiefen des afrikanischen Kontinents
Weitere Kostenlose Bücher