Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
alle, und dennoch wollte sich mit dem Verstreichen der Zeit, mit dem Einschleichen einer gewissen Müdigkeit einfach keine erleichternde Taubheit einstellen. Man gewöhnte sich zwar daran, an das Sehnen und Hoffen und Bangen, aber es wurde nicht leichter, nicht weniger schmerzlich. Das Warten war wie eine quälend langsame Fahrt durch einen endlosen, rußfinsteren Tunnel, und die Hoffnung auf den versprochenen Lichtschein wollte sich einfach nicht erfüllen.
»Weißt du, Gracie ... mittlerweile ...« Beckys Gesicht verzogsich, und sie schluckte. »Mittlerweile denke ich, ich könnt’s sogar ertragen, wenn er eine andere liebt und heiratet. Doch – ich glaub, das könnt ich wohl. Wenn ich nur weiß, dass es ihm gut geht. Wenn ich ihn nur ab und zu sehe und mich überzeugen kann, dass es ihm gut geht.« Tränen strömten ihr über das Gesicht, und sie flüsterte heiser: »Ich hab solche Angst um ihn! Ich bete jeden Tag, für sie alle, aber die Angst, die geht einfach nicht weg!«
Es war schon dunkel, als Grace wieder auf Shamley Green eintraf und sich in der Eingangshalle müde aus Mantel und Handschuhen schälte, ihren Hut absetzte und alles dem Dienstmädchen übergab. »Danke, Lizzie.«
»Gerne, Miss Grace.«
Obwohl sie schon von Weitem sah, dass der ziselierte Silberteller für die Post, eines der Mitbringsel ihrer Eltern aus Indien, in seiner eleganten Pracht leer glänzte, trat sie wider besseres Wissen an die Kommode und legte die Fingerspitzen auf das kühle Metall.
»Leider noch immer nichts für Sie oder Miss Ada, Miss Grace. Auch nichts von Master Stephen.«
Grace lächelte das Dienstmädchen matt an. Das Mitgefühl in deren Blick trieb Grace die Tränen in die Augen. Sie sehnte sich nach Trost, nach der Art von Trost, die als Kind jede Träne hatte versiegen, jeden Schmerz hatte vergessen lassen, sei es ein aufgeschlagenes Knie, eine zerbrochene Puppe oder ein Streit mit der Freundin. Grace hoffte, dass Bertha mit dem Backen noch nicht fertig war oder dass sie vielleicht bis zu den Vorbereitungen für das Dinner einen Gast in der Küche duldete, der sich nach einem Becher heißen Kakaos und Keksen und nach ein paar herzlichen Worten sehnte. Über den Innenhof wäre sie am schnellsten in der Küche, aber Grace wollte nicht noch einmal hinaus in die Kälte, und so lenkte sie ihre Schritte in den westlichen Teil des Hauses, in Richtung Salon und Musikzimmer.
Als sie um die Ecke bog, fiel ihr Blick zuerst auf Henry, deram Fuß der Treppe lag, die Schnauze zwischen den Vorderpfoten vergraben. Statt bellend und jaulend auf sie zuzuspringen, wie er es sonst zur Begrüßung tat, klopfte er nur mit der Rute auf den Boden. Dann sah sie Ada, die sich mit dem Rücken ans Treppengeländer drückte und angespannt auf dem Daumennagel herumkaute. Sie bemerkte nicht einmal, wie ihre große Schwester zu ihr trat, sah erst auf, als Grace sie sanft am Arm berührte und sie ansprach. »Ads? Was machst du hier?«
»Mama und Papa streiten sich«, flüsterte Ada bedrückt. »Seit über einer Stunde schon.«
Grace wollte ihr widersprechen. Ihre Eltern stritten sich nie, zumindest hatten ihre Kinder davon nie etwas mitbekommen. Der Colonel und Constance Norbury waren nicht immer einer Meinung, aber sie kamen stets in durchaus sachlich geführten, sehr kurzen Gesprächen zu einer Übereinstimmung, was gewiss vor allem dem sanften, nachgiebigen Wesen Constances zu verdanken war. Doch die Stimme ihrer Mutter, die Grace nun aus dem Arbeitszimmer vernahm, klang weder sanft noch nachgiebig. Sie konnte keine einzelnen Worte ausmachen, aber was sie von der anderen Seite der Tür vernahm, war tatsächlich ein handfestes, hitzig ausgetragenes Streitgespräch.
»Eigentlich wollte sie Papa noch einmal bitten, mich zumindest probeweise als Hilfslehrerin ans Bedford zu lassen«, raunte Ada. »Aber ich glaube, darum geht es schon eine Weile nicht mehr.«
Wie erwartet hatte Colonel Norbury Ada den Wunsch, am Bedford zu unterrichten, und sei es nur als rechte Hand der Lehrerin für Malen und Zeichnen, in aller Entschiedenheit abgeschlagen. Den Bachelor in Kunst anzugehen war ein Kompromiss gewesen, auf den sie sich letztlich geeinigt hatten, und so waren die Schwestern zum Ende des Sommers ans Bedford zurückgekehrt. Doch während Grace sich durchaus zufrieden wieder der französischen und der englischen Literatur widmete und sich durch die Vokabeln und die Grammatik der deutschen Sprache kämpfte, war Ada mit ihren Kursen nicht so
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