Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
wieder ging.
»Schau mal!« Grace wuchtete die Tasche auf ihren Schoß und ließ die Schlösser aufklicken, während Becky ihnen einschenkte. »Ich hab dir alles rausgesucht, worum du mich gebeten hast.« Nach und nach holte sie Bücher heraus und stapelte sie zwischen ihren beiden Teegedecken auf. »Shelley. Keats. Wordsworth. Das hier«, sie hielt Becky einen schmalen, in dunkles Leder gebundenen Band hin, »ist Byrons Manfred – der lag Stevie immer besonders am Herzen.« Becky stellte die Kanne ab und ließ sich langsam auf dem Stuhl gegenüber von Grace nieder. Mehrmals rieb sie die Hände an ihrem Rock ab, ehe sie das Buch entgegennahm, andächtig, beinahe ehrfürchtig. »Mit den Brontës«, Grace legte noch zwei Bücher oben auf den Stapel, »konnte er zwar nie viel anfangen; ich hab sie aber immer gerne gelesen, und vielleicht gefallen sie dir ja auch.« Sie stellte die Tasche auf den Boden und griff zu ihrer Tasse.
Reverend Peckham hatte nicht viel übrig für derlei Literatur, schon gar nicht als Lektüre für seine Tochter, sein jüngstes Kind nach zwei Söhnen, die längst aus dem Haus waren und eine eigene Familie gegründet hatten. Sollte der Herr im Himmel seine Gebete erhören, so würde Becky niemals heiraten, sondern für ihren Vater da sein, bis er eines Tages in die Ewigkeit einging. Das Zweitbeste wäre, Becky vermählte sich mit seinem Nachfolger als Pastor der Holy Trinity Church von Guildford, allenfalls noch mit einem anderen Kirchenmann. So war Becky, etwas mehr als zwei Jahre jünger als Grace, allein dazu erzogen worden, einen Haushalt selbstständig zu führen und all die Aufgaben in der Pfarrgemeinde zu übernehmen, die in die weibliche Sphäre fielen, die Leitung der Sonntagsschule eingeschlossen. Außer der Heiligen Schrift und dem Gesangbuch, lehrreichen und erbaulichen Schriften zu Küche und Kirche hatte der Reverend im Pfarrhaus keinen anderen Lesestoff für seine Tochter geduldet. Ein Mangel, den Becky immer mit scherzhaften Bemerkungen überspielt hatte, auch und gerade Stephen gegenüber. Doch je länger er nun fort war, desto größer war ihr Bedürfnis geworden, sich mit dem zu beschäftigen, was Stephens geistige Heimat ausmachte. Nicht zuletzt in der verzweifelten Hoffnung, ihn auf diesem Weg für sich gewinnen zu können.
Becky starrte das Buch in ihren Händen an, eine kleine Ewigkeit, wie es schien. Dann schlug sie es vorsichtig auf, blätterte behutsam die ersten Seiten um. Ihre Augen wanderten über die Zeilen, und ihre Lippen formten lautlos die Worte, die sie las. Sie ließ das Buch wieder sinken und fiel in sich zusammen, eine Geste der Mutlosigkeit. Ängstlich sah sie Grace an. »Und wenn ich nicht das Geringste davon verstehe?«
Grace setzte die Tasse auf der Untertasse ab und rückte mit ihrem Stuhl näher, legte die Hände auf Beckys Knie. »Dann fragst du mich einfach, ja? Ich erzähl dir gern alles, was ich darüber weiß.«
Becky nickte beklommen und legte das Buch auf den Tisch,schob es auf dem Tischtuch sachte hin und her, als müsste sie es an eine unsichtbare Markierung anpassen. »Ach, Gracie!«, brach es unvermittelt aus ihr heraus, »ich hab dir das nie gesagt, aber ich hab mir immer gewünscht, ich wär so wie du! So klug und schön und mutig und beliebt – und so ... so dünn!« Ihre großen Augen schimmerten feucht.
»Nein, Becky, das musst du nicht!« Grace rutschte bis an die Kante des Stuhls und legte der Freundin die Hand auf die Wange. »Du bist genau richtig, so wie du bist! Du bist hübsch und lebensklug und tüchtig – und ein ganz wunderbarer Mensch, einer der liebenswertesten Menschen, die ich kenne!«
»Aber«, schluchzte Becky auf, »aber ich denke immer wieder, wenn ich anders wär – dann ... dann würd Stevie mich vielleicht auch lieben können! Seine letzten Briefe waren so ... kurz. Und so trocken und nichtssagend und ...«
»Becky.« Grace nahm ihre Hände fest in die ihren. »Stevie geht’s nicht gut in diesem Krieg, wie’s wohl keinem von ihnen gerade gut geht. Wie soll er da zärtliche Briefe schreiben? Wart doch ab, wie es ist, wenn er wieder nach Hause kommt.«
Ihre Freundin nickte, doch ihre Unterlippe und ihr Kinn zitterten, und eine dicke Träne rollte ihr über die Wange. »Es ist das vierte Weihnachten, Gracie! Das vierte Weihnachten ohne Stevie und die anderen!«
»Ich weiß«, erwiderte Grace tonlos und strich ihrer Freundin über das hochgesteckte Haar. Das Warten, das unendliche Warten zermürbte sie
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