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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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Ruf des Kuckucks zu hören und das hämmernde Staccato eines Spechts. Irgendwo in der Ferne, auf dem Hof eines der Pächter, krähte ein Hahn.
    Grace hörte nur mit halbem Ohr hin, sie horchte auf das Rattern von Rädern und das Schlagen von Hufen, die sich dem Hauptportal näherten und in den Hof einbogen. Stimmen ertönten, die sich unten im Haus fortsetzten und dann in Henrys aufgeregtem Gebell untergingen.
    Eigentlich hatte Grace sich an ihren Sekretär gesetzt, um den Brief von Jeremys Mutter zu beantworten, der gestern eingetroffen war. Sie schrieben sich nicht oft, aber regelmäßig, und jedes Mal war es ein Trost für Grace, den Umschlag mit dem Poststempel von Lincoln zu öffnen und die vertraut gewordene steile Handschrift zu sehen. Pip jedoch, die mit Grace hier heraufgekommen war, hatte schneller das Interesse daran verloren, ein Garnknäuel mit den Krallen zu bearbeiten, als Grace ihreSchreibmappe hervorgeholt und geöffnet hatte und ihr mit erzürntem Gemaunze befohlen, sich gefälligst um sie zu kümmern. Seither saß Grace einfach nur da, streichelte und kraulte die vor sich hin schnurrende Katze in ihrem Schoß und hing ihren Gedanken nach. Ihr Blick fiel auf den Stapel dickbäuchiger Mappen in einem der Fächer in der Rückwand des Sekretärs, alle prall gefüllt mit Zeitungsausschnitten, die sie über die Jahre hinweg gesammelt hatte, über Ägypten und den Sudan und den Feldzug der britischen Armee. Alle, bis auf die oberste, die die jüngste war und noch mager und die Grace nun hervorholte und vor sich hinlegte, aufschlug und die wenigen Artikel darin durchblätterte; Ausschnitte auf Englisch, Französisch, Deutsch und auch auf Italienisch, durch das sich Grace mühevoll hindurchbuchstabierte.
    Nachdem Gladstone sich im vergangenen Juni wegen des unglücklichen Ausgangs der Khartoum-Expedition gezwungen gesehen hatte, seinen Hut zu nehmen, war er seit Februar nun doch wieder Premierminister, und die Frage, ob man Irland zugestehen sollte, sich künftig selbst zu verwalten, hatte Ägypten und den Sudan aus den Zeitungen und ebenso aus den Köpfen der Menschen verdrängt. Nicht zuletzt weil die Nachrichten aus dem Sudan nur noch spärlich nach Europa tröpfelten. Der Mahdi selbst hatte Gordon weniger als um ein halbes Jahr überlebt, und die Umstände seines Todes blieben von Rätseln umrankt. Man munkelte, er sei vergiftet worden, von einem engen Getreuen oder von einer seiner zahlreichen Frauen – was dem Gerücht Nahrung gab, er sei letztlich an seinem ausschweifenden Lebenswandel zugrunde gegangen, während er nach außen hin stets Askese gepredigt hatte. Aber vielleicht war er nur ganz einfach dem Typhus zum Opfer gefallen, der in der zerstörten, mit verwesenden Leichen übersäten Stadt von Khartoum wütete und sich von dort aus weiter durch das Land fraß. Begraben wurde der Mahdi in Omdurman, der neu gegründeten Hauptstadt des Sudan, und beerbt von drei seiner engsten Vertrauten, den Kalifen, von denen Abdallahi ibn Muhammad der mächtigste war und über den Norden herrschte und ehrerbietig nur »Khalifa« genannt wurde. Ein ehernes Regiment führte dieser in seinem Teil des Landes, streng nach den Sitten und Gebräuchen des Islam, nach dem Wort des Koran und dessen Rechtsprechung. Alles Fremde, alles, was nicht muslimisch war, wurde unter Strafe verbannt und dem Vergessen anheimgegeben. Der Sudan wurde beinahe zu einem weißen Fleck auf der Landkarte: zwar größtenteils kartographiert, aber mittlerweile vom Rest der Welt fast vollkommen abgeschnitten.
    Was blieb, war die Verehrung für Major General Gordon als Sinnbild für Heldentum, als Leitfigur des Widerstandes und all jener Tugenden, auf die man in England so stolz war: Mut. Tapferkeit. Härte. Ausdauer. Ehre. Im Gedächtnis Großbritanniens verschmolzen Gordon und Khartoum zu einer Einheit, und ihre Namen standen für eine erlittene Schmach, die darauf wartete, eines Tages gerächt zu werden. So gut wie vergessen jedoch waren die Namen jener Menschen, die in den Jahren des Aufstands in den Weiten des Sudan verschollen waren. Ein aus Wien stammender Offizier und Finanzinspektor namens Rudolf Freiherr von Slatin. Frank Lupton, ein englischer Provinzgouverneur. Martin Hansal junior, der Sohn des Konsuls von Österreich-Ungarn in Khartoum und der gleichfalls aus Österreich stammende Pater Ohrwalder sowie eine Reihe italienischer Ordensschwestern. Von Slatin wusste man, dass er sich als persönlicher Gefangener des Khalifa in

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