Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
geschickt erpresst«, erklärte Stephen bissig. »Erst wenn unser Schwesterchen wieder genug Gewicht zugelegt hat und überhaupt einen halbwegs normalen Eindruck macht, darf sie zwei Wochen mit den Digby-Jones in London verbringen.«
»So hab ich das ganz bestimmt nicht zu ihr gesagt«, gab sie gereizt zurück.
»Zu schade, Stevie«, meinte Royston leichthin, den Arm beschützend um Grace’ Schultern gelegt, »dass bei dir offenbar Hopfen und Malz verloren ist. Sonst könnten wir ja mal versuchen, aus dir Griesgram wieder einen halbwegs netten oder zumindest erträglichen Menschen zu machen.«
Stephen setzte zu einer scharfen Erwiderung an, wurde jedoch von einem Ausruf abgelenkt.
»Huhuuuuuu«, ertönte es hinter ihnen vom Haus her, und als die drei sich umwandten, kam Becky auf sie zugelaufen, einen mit einem Tuch abgedeckten Teller in den behandschuhten Händen. Henrys Kopf ruckte hoch, dann schoss er bellend und schwanzwedelnd auf Becky zu, sprang an ihr hoch und wich ihr nicht mehr von der Seite.
»Scheiße«, knurrte Stephen ohne Rücksicht auf seine Schwester und klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen. »Haltet mir den Plagegeist bloß vom Leib!«, nuschelte er, löste dieBremsen des Rollstuhls und schob die Räder mit beiden Händen an, sodass er in halsbrecherischem Tempo den Weg hinabschoss.
»Huhu, Gracie! Hallo, Royston! Schön, dich zu sehen!«, rief Becky im Vorbeilaufen und rannte hinter Stephen her.
»Autsch«, machte Royston beklommen.
»Sie kennt kein Halten mehr in ihrer Fürsorge, und er weiß darauf nur mit Grobheiten zu antworten«, murmelte Grace und sprang auf. »Ich kann das nicht länger mit ansehen.«
»Hiergeblieben!« Royston hielt Grace fest und zog sie unsanft zurück auf die Bank. »Stevie muss selber einsehen, dass es ihm nicht hilft, wenn er sich wie der letzte Widerling verhält. Und Becky ist ebenfalls alt genug und für sich selbst verantwortlich. Ihr Pech, wenn sie ihr Herz ausgerechnet an ihn verschwendet.« Roystons Worte brachten die Erinnerung an ganz ähnliche Worte zurück, die Jeremy einmal zu ihr gesagt hatte, an jenem Tag auf Estreham, als Ada und Simon verschwunden waren, kurz bevor das Gewitter losbrach, und die Kehle wurde ihr eng.
»Und wie sieht’s in dir aus, Grace?«, hörte sie Royston neben sich flüstern.
Grace verschränkte die Arme vor der Brust, streckte die Beine aus und zuckte mit den Schultern. »Wie schon.« Sie atmete schwer ein und hob den Kopf. »Kann ich dich was fragen?«
»Klar doch.« Royston beugte sich vor, um den Zigarettenrest in dem Aschenbecher auszudrücken, der neben einem Fuß der Bank stand.
»In Abu Klea ...« Sie zögerte, als er in seiner Bewegung erstarrte, sprach dann aber weiter. »Was war das Letzte, was du von Jeremy gesehen hast?«
»Puh, Grace«, wich er aus. »Len war der Letzte, der Jeremy gesehen hat. Das solltest du besser ihn fragen.«
»Das habe ich, Royston. Ich möchte es aber gern von dir wissen.«
Royston stützte die Unterarme auf die Knie und faltete dieHände, starrte lange zu den Eichen hinüber. »Seinen Rücken«, sagte er schließlich. »Wie er losgerannt ist, zusammen mit Len. Ich habe heute noch seine Stimme im Ohr. Gebt mir Deckung , hat er gebrüllt. Ich wollte ihnen nachlaufen – und dann sah ich Stevie, und der steckte gewaltig in der Klemme. Mein Gott, es ging alles so schnell.« Er löste seine Finger und rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, stützte dann das Kinn hinein. »Im Nachhinein wird’s einem ganz anders, wenn man darüber nachdenkt, wie sehr man unwillentlich zum Herrn über Leben und Tod wird. Weil man in Bruchteilen von Sekunden die Entscheidung fällt, wem man beisteht und wen man seinem Schicksal überlässt. Und das ist dann nicht einmal eine wohlüberlegte Entscheidung, dafür ist einfach keine Zeit.« Royston sah Grace an und senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Glaub mir, Grace: Ich hab seither so oft darüber nachgedacht, ob ... ob Simon noch leben würde, wenn ich den beiden gefolgt wäre. Ob es mit Jeremy anders ausgegangen wär’. Aber ich konnte Stevie einfach nicht im Stich lassen.«
»Dafür«, brachte sie mit belegter Stimme hervor, »dafür bin ich dir auch dankbar. Das sind wir alle.«
»Komm her.« Er zog sie an sich. »Ich hab ihn überall gesucht, Grace«, raunte er heiser gegen ihr Ohr. »Ich hab alles versucht. Das musst du mir glauben.«
Grace nickte und wollte noch etwas sagen, doch laute Stimmen, übertönt von einem
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