Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
mit Leonard Leichen hochhob und wegrollte und beiseiteschob auf der verzweifelten Suche nach dem Freund, bis sie vom Kommandanten zurückgepfiffen wurden.
All das hatte Roystons Herz ertragen, auch noch den Schock der Todesnachricht aus Devon, die Trauer um den Vater, die Frage, ob sich der Earl vielleicht anders besonnen hätte, wäre er, Royston, an Weihnachten zu Hause gewesen. Wenn sein Herz darüber auch dünnwandig und mürbe geworden war. Alles hatte Royston aushalten können, weil es Cecily gab. Doch nun, nun konnte sein durchgescheuertes Herz nicht mehr, und es brach. Er konnte fühlen, wie es in Stücke ging.
34
»Noch einen, Ads! Bitte!« Auffordernd hielt Grace ihrer Schwester den Löffel an die Lippen, doch Ada presste sie hartnäckig zusammen. »Nur einen noch, Ads – mir zuliebe!«
Ada wandte den Kopf ab und rollte sich wieder auf dem Kanapee zusammen. Die Wange an die Lehne gelegt, wickelte sie sich tiefer in den Schal, den Schal in Rosé und Grün und Cognac, den Simon ihr geschickt hatte. Damals, vor bald vier Jahren. Seitdem waren die Farben verblasst, und das Gewebe wies die ersten dünnen, glänzenden Stellen auf.
Grace unterdrückte ein Seufzen und legte den Dessertlöffel auf das Tablett mit dem gerade einmal halb geleerten Suppenteller und dem Schälchen Pudding, von dem Ada nur zwei, drei Löffelchen gegessen hatte. Ada schien gerade noch so viel zu sich zu nehmen, dass sie nicht verhungerte, und außerdem nur flüssige Speisen oder Brei, so als hätte sie andauernd Halsweh. Seit Monaten schon. Seit jenem Tag im Februar, als Grace in aller Eile ihrer beider Sachen gepackt und deren Abholung veranlasst, sie beide mitten im zweiten Trimester vom Bedford abgemeldet hatte und schließlich mit ihrer teilnahmslosen Schwester an der Hand in den Zug gestiegen war, der sie beide nach Hause brachte.
»Ist dir kalt?« Als Ada nickte, fügte sie hinzu: »Soll ich Holz nachlegen lassen?«
»Nimm mich lieber in den Arm«, hauchte Ada.
Grace schlüpfte aus den Schuhen und zog die Beine untersich, schmiegte sich an den Rücken der Schwester und umschlang sie mit beiden Armen. Zärtlich strich Grace ihr über das stumpf gewordene Haar, das sie ihr heute Morgen zu einem Zopf geflochten hatte, und über die Wangen, während Ada mit glasigen Augen zum Fenster hinausstarrte. Hinaus in den grauen Oktobertag, dessen finsterer Himmel sich schwer auf die Baumwipfel gelegt hatte und der einen fauchenden Wind mit sich brachte, der die letzten braunen Blätter von den Ästen riss und über den Rasen fegte. Purr-purr-purr , machte es in Adas Schoß. Sal, die bis auf einige graue Flecken weiße Katze, die Ada vorletzten Sommer von den Jenkins geholt und wegen der Farbe des Fells Salt, wie Salz, getauft hatte, genoss es, von Ada gekrault zu werden. Ihr weitaus lebhafterer Widerpart Pip, eigentlich Pepper, wegen ihres grau-schwarz-weißen Fells, trieb sich irgendwo im Haus herum, und vor dem Feuer im Kamin schnaufte Henry, inzwischen ausgewachsen, aber die meiste Zeit über noch fast genauso übermütig wie in seinen lange zurückliegenden Welpentagen, in seinem Korb zufrieden auf.
Eine Träne rollte über Adas Wange und tropfte auf Grace’ Finger, und Grace streichelte sie sanft fort, küsste Ada auf den Hinterkopf. Es tat ihr in der Seele weh, wie sehr ihre Schwester litt und wie sehr sie trauerte, und nicht zu wissen, wie sie diesen Schmerz lindern konnte.
Jeremy. Wie ein Schwertstreich durchfuhr es Grace, und sie biss die Zähne zusammen. Für ihre Tränen, für ihren Schmerz war die Zeit noch nicht gekommen. Nicht, solange Ada sie brauchte und Stephen. Nicht, solange der Colonel und ihre Mutter schon genug Sorgen hatten um ihre beiden jüngeren Kinder. Grace’ Tränen mussten warten, bis es dunkel war. Bis sie in ihrem Bett lag und sie ihnen freien Lauf lassen konnte.
»Bringst du mich zu Bett?«, wisperte Ada.
»Es ist erst Nachmittag«, flüsterte Grace und drückte ihrer Schwester einen Kuss aufs Ohr.
»Ich bin aber müde.«
Grace löste sich von ihr und erhob sich, half Ada auf und begleitete sie auf ihr Zimmer. Die Katze auf dem Arm, schleppte sich Ada, gestützt von Grace, die Treppe hinauf. Wie eine alte Frau , dachte Grace manchmal wehmütig. Und wie man es bei einem kleinen Kind tat, zog sie Ada aus und streifte ihr das Nachthemd über. Es jagte Grace jedes Mal aufs Neue einen Schrecken ein, wenn sie sah, wie abgemagert ihre Schwester war; wie Hüftknochen, Rippen, Schulterblätter unter der
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