Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Stimme hatte sich verändert; von der früheren Sanftheit, der Unsicherheit, war nichts mehr zu hören. Knochentrocken klang sie, beinahe schneidend.
»Hallo, Stevie. Ja. Gestern mit dem Regiment in Portsmouth gelandet.«
Stephen nickte bedächtig, die Mundwinkel herabgezogen; auf beiden Seiten hatten sich scharfe Falze in seine noch junge Haut geritzt. »Meinen Glückwunsch nachträglich noch zur Beförderung – Herr Major .«
»Danke, Stevie. Auch wenn es mir nicht sonderlich viel bedeutet.«
»Na, was ist denn das für eine Einstellung«, kam es bissig von Stephen. Er nahm die Hände vom Tisch und legte sie auf die Räder des Rollstuhls, fuhr ihn ein Stückchen zurück und dann um den Tisch herum auf Leonard und seine Schwester zu. »Muss doch großartig sein, wie ein Held nach Hause zurückzukehren.Noch dazu auf zwei gesunden Beinen.« Er lenkte den Rollstuhl so dicht an Leonard heran, dass dieser rasch einen Schritt zurücktrat, um nicht angefahren zu werden, und unwillkürlich den Atem anhielt, als ihn ein Schwall des würzigen, starken Rasierwasserdufts traf, der von Stephen ausging. »Wenn ihr mich bitte entschuldigt – ich glaube, es ist Zeit, dass ich mich frisch machen lasse.«
Er rollte auf die Tür zu, hatte sich aber im Abstand verschätzt, unabsichtlich oder aus diebischer Freude an der Zerstörung. Mit einem Rums krachte der Rollstuhl gegen den Türrahmen und schlug eine Kerbe hinein. Es war nicht die erste; das Holz war auf beiden Seiten von etlichen Schrammen und Scharten gezeichnet. Leonard machte Anstalten, ihm zu helfen, doch mit einem warnenden Kopfschütteln hielt Grace ihn zurück. Stephen fuhr ein Stück rückwärts, manövrierte den Rollstuhl etwas mehr nach links und ruckelte im zweiten Anlauf ohne Schwierigkeiten zur Tür hinaus, bog in einer weiten Kurve in den Korridor. »Mrs Meyers! Arbeit für Sie!«, konnten Grace und Leonard ihn rufen hören.
»Grace, was hat er gemeint mit –«
»Schließ bitte die Tür«, bat ihn Grace. Erschöpft ließ sie sich im Sessel unter dem Fenster nieder und rieb sich über das Gesicht, faltete dann die Hände in ihrem Schoß.
Leonard ließ die Tür zuschnappen, kam zu ihr und kniete vor dem Sessel nieder, sah sie von unten herauf an. »Grace?«
Grace’ Unterlippe zitterte, und Tränen rannen aus ihren Augen. Sie zögerte, als fiele es ihr schwer, zu sprechen, doch dann sagte sie: »Es ist nicht nur, dass Stevie nie wieder gehen wird, obwohl das auch schon schrecklich genug ist. Er ... er hat auch ... er hat auch keine Beherrschung mehr über Darm und Blase«, würgte sie hervor, »und muss gewickelt werden wie ein kleines Kind. Wir haben zwei Pflegerinnen eingestellt, die abwechselnd für ihn da sind, um Mama zu entlasten.«
»Großer Gott.« Leonard strich Grace erschüttert übers Haar.
»Ads«, sie atmete schwer aus, »Ads hat jeglichen Lebensmut verloren, und es scheint ihr immer schlechter zu gehen anstatt irgendwann einmal besser. Und als sei das alles nicht genug«, ein bitteres Lächeln flackerte kurz auf ihrem Gesicht auf, »reden meine Eltern nur noch das Nötigste miteinander. Sie geben sich gegenseitig die Schuld für Ads’ und Stevies Zustand. Mama ist sogar aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen.« Sie sah Leonard unverwandt aus tränennassen Augen an. »Ich weiß nicht, was noch werden soll, Len. Und ich – ich muss immer daran denken, wie glücklich wir waren in jenem Sommer, in dem Sommer vor vier Jahren, und dass nichts, aber auch gar nichts davon übrig geblieben ist.« Grace schlug die Hände vors Gesicht und begann haltlos zu weinen.
Auf den Knien richtete sich Leonard auf und zog sie an seine Brust. Hielt sie fest, während sie sich bei ihm ausweinte, wiegte sie sanft in seinen Armen und murmelte tröstend auf sie ein. Und Grace war einfach nur froh, dass er da war; dass jemand da war, der ihr die Schulter bot, anstatt selbst immer diejenige zu sein, die alles schulterte.
35
Einmal mehr hielt der Sommer Einzug in Surrey. Das wie lackiert glänzende Grün des April, das an Äpfel erinnerte und an Limonen, bekam im Laufe des Wonnemonats die tiefere, satte Färbung der warmen Jahreszeit. Die Flügel der Fenster oben in Grace’ Zimmer standen weit auf, gaben den Blick frei auf den Eichenwald, dessen Laub innerhalb weniger Tage vom saftigen, aber noch lichten Frühjahrskleid zu sommerlicher Dichte herangereift war. Ein ganzes Vogelorchester tschirpte und tirilierte und flötete, und zwischendurch war der hallende
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