Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Krieg als vermisst gegolten hätte?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ihre Mutter ehrlich. »Aber irgendwann hätte ich mir zumindest Gedanken über mein eigenes Leben machen müssen. Du wirst in ein paar Wochen sechsundzwanzig, Grace – du kannst nicht dein Leben nur damit zubringen, hier auf Shamley herumzusitzen und zu warten. Und nach menschlichem Ermessen auch noch vergeblich.«
Grace schwieg. Ihre Mutter hatte einen wunden Punkt berührt. Nicht nur, dass es keinerlei Hinweise gab, dass Jeremy noch am Leben sein könnte. Bei den selten gewordenen Anlässen, zu denen Grace sich noch in Gesellschaft bewegte, hatten die Blicke der Gäste eine klare Sprache gesprochen: Worauf wartet Grace Norbury denn noch? Allzu viel Zeit bleibt ihr nicht mehr, eine gute Partie zu machen, sie ist ja schon fast ein spätes Mädchen. Ist ihr etwa keiner gut genug? Nicht einmal Leonard Hainsworth, der Baron Hawthorne? Oder stimmt etwas nicht mit ihr und er hat ihr deswegen noch keinen Antrag gemacht? Es kümmerte Grace nicht, dass man so über sie redete, es war ihr nur lästig, und es störte sie in ihrer Trauer, die immer noch so viel Hoffnung enthielt. Eine Hoffnung, die niemand außer ihr zu verstehen oder auch nur zu billigen schien.
»Wenn du mir schon rätst, die Vergangenheit zu begraben«, sagte sie schließlich leise, »wäre es dann nicht auch an der Zeit, dass ihr euch wieder vertragt, du und Papa?«
Das sanfte Gesicht ihrer Mutter verhärtete sich. »Wir sind nach wie vor als Eltern für euch Kinder da. Alles andere geht nur uns beide etwas an.«
»Aber uns –«, setzte Grace an, doch ihre Mutter fiel ihr ins Wort. »Vielleicht möchtest du Royston Guten Tag sagen? Er ist mit Stephen unten im Garten.«
»Welch seltener Gast!«, rief sie aus, als sie durch den Garten ging, auf die Bank zu, die neu war auf Shamley Green, ebenso wie diebefestigten Wege, die den Rasen seit dem Frühjahr durchzogen und die der Colonel hatte anlegen lassen, damit Stephen mit seinem Rollstuhl umherfahren konnte. »Hallo, Royston!«
Royston erhob sich, blies den Rauch aus und drückte Stephen rasch die Zigarette in die Hand, die er bei ihm geschnorrt hatte. »Hallo, Grace!« Er umarmte sie fest. »Tut das gut, dich zu sehen!«
»Hättest du schon eher haben können«, neckte sie ihn. In Roystons Gegenwart bekam man unweigerlich gute Laune, waren die Zeiten auch noch so schwer, war das Herz auch noch so traurig. »Du bist ja ein richtiger Einsiedler geworden.« Royston nahm seine Zigarette wieder entgegen und setzte sich, und Grace ließ sich neben ihm nieder. Henry, der den Gast vorhin so freudig begrüßt hatte, klopfte mit der Rute auf das Gras und winselte auffordernd. Als man ihm keine Beachtung schenkte, legte er den Kopf zwischen die Vorderpfoten und lauerte sichtlich auf einen günstigen Moment, einen der drei vielleicht doch noch zum Spielen verlocken zu können.
Royston sog den Rauch tief ein und ließ ihn dann langsam ausströmen. »Ja – ich brauchte einfach etwas ... Zeit. Zeit und Ruhe.«
»Hättest du dir mehr Gedanken bei der Auswahl deiner Herzdame gemacht, wäre dir das alles erspart geblieben«, bemerkte Stephen schonungslos aus dem Rollstuhl neben der Bank und schnippte das Ascheende seiner Zigarette in den Rasen.
»Danke, Stevie.« Royston schlug ihm kräftig auf die Schulter. »Ich weiß es zu schätzen, solch einen mitfühlenden Charakter wie dich als Freund zu haben!«
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Grace und rieb ihm über den Oberarm.
Royston nickte bedächtig. »Ganz gut, denke ich.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich hab’s schon gehört. Mit Cecily und ihrem Frosch .« Grace verbiss sich das Lachen über den für Franzosen gern verwendeten Spottnamen. Royston zuckte mit den Achseln und zog an seiner Zigarette. »Ändert nichts an der Sache,sie hatte mich ja schon vorher abserviert. Wenn’s sie glücklich macht, bitte. Ich hab schon lange aufgehört, mir das Hirn darüber zu zermartern, was ich hätte anders machen können, damit sie bei mir bleibt. – Wie geht’s Ads?«
Grace sah sich um und deutete auf einen länglichen Fleck in Grau und Braun weiter hinten im Garten. »Sitzt dort drüben im Liegestuhl. Es geht ihr besser«, verkündete sie mit einem erleichterten Aufatmen. »Der Besuch der Digby-Jones über Weihnachten hat Wunder gewirkt. Seither isst sie mehr, und es scheint insgesamt aufwärtszugehen. Sie malt und zeichnet sogar wieder.«
»Weil Grace, unsere Übermutter, sie
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