Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Omdurman befand – anhand der Briefe, die seine Angehörigen in Österreich erreicht hatten. Denn der Khalifa gestattete es durchaus, dass seine Gefangenen Briefe verschickten, wenn ihm das im Gegenzug Geld einbrachte; Geld, das er für den Unterhalt des Gefangenen verlangte. Und man nahm an, dass sich noch weitere vermisste Personen im Gefangenenlager des Khalifa zu Omdurman aufhielten. Berichte, die Grace gierig aufsog wie ein Schwamm und die ihr immer durch den Kopf gingen, wenn sie an Jeremy dachte.
Sie fuhr zusammen, als es an ihrer Tür klopfte, und hastig schlug sie den Deckel der Mappe zu. »Ja?«
»Hier bist du«, sagte Constance Norbury lächelnd, als sie eintrat. »Was verkriechst du dich denn hier drinnen bei diesem herrlichen Wetter?«
»Eigentlich wollte ich einen Brief schreiben, aber Madame hier«, sie hob das graue Fellknäuel kurz hoch und bettete es wieder in ihren Schoß, »mit ihren Ansprüchen hatte natürlich Vorrang. Hattest du einen schönen Vormittag?«
»Ja, in der Tat.« Ihre Mutter trat zu ihr und küsste Grace auf die Wange. »Ich soll dich lieb von den Hainsworths grüßen. Das habe ich dir mitgebracht.« Sie legte ein an Grace adressiertes Kuvert auf den Sekretär, und Grace öffnete es sogleich, überflog die innenliegende Karte, die zur Verlobungsfeier von Lady Cecily Hainsworth im Juli einlud. Ihr Zukünftiger hatte einen langen, komplizierten französischen Namen, ergänzt durch verschiedene Adelstitel.
»Das kann sie sich schenken«, murmelte Grace und warf die Karte auf die Tischplatte zurück.
»Ich weiß, du bist momentan nicht sonderlich gut zu sprechen auf Cecily«, ließ ihre Mutter sich vernehmen und nahm die Einladung an sich, bevor Grace sie womöglich kurzerhand in den Papierkorb warf. »Aber wenn Cecily der Ansicht ist, ihre Verlobung mit Royston sei ein Fehler gewesen, so ist das allein eine Angelegenheit zwischen den beiden. Und es ist doch besser, sie hat es rechtzeitig erkannt, vor der Hochzeit, bevor sie beide in einer Ehe gefangen gewesen wären, die ihnen nur Kummer bereitet hätte.« Grace warf einen verstohlenen Blick auf ihre Mutter, doch nichts in deren Gesicht ließ Rückschlüsse darauf zu, ob sie ihre eigene Ehe, die lange so glücklich gewesen war, mittlerweile ebenso empfand. »Du solltest dich eher mit Cecily freuen, dass ihr nun ein neues Glück vergönnt ist.«
Grace sah ihre Mutter offen an. »Es war gemein, wie sie mit Royston umgesprungen ist, Mama. Hinterlistig und gemein.«
»Früher hattest du immer Verständnis für ihre Launen.«
Grace zuckte mit den Achseln. »Früher war manches anders«, erwiderte sie leise, beinahe wehmütig, und mit einem Aufseufzen fügte sie hinzu: »Früher hat sich Cecily mir gegenüber auch wie eine Freundin verhalten, und heute höre ich kaum noch etwas von ihr.«
»Ungeachtet dessen bleiben die Hainsworths uns in Freundschaft verbunden.« Constance Norbury ging vor ihrer Tochter in die Knie und sah sie von unten herauf an, während sie zuerst Pip am Ohr kraulte und dann Grace über den Arm strich. »Lady Grantham hat mir heute im Vertrauen erzählt, dass Leonard nur auf den richtigen Moment wartet, um dich um deine Hand zu bitten. Du bräuchtest ihm nur ein kleines bisschen entgegenzukommen. Du müsstest ihm einfach nur zu verstehen geben, dass er dir nicht ganz gleichgültig ist.«
Grace sah ihre Mutter fassungslos an. »Ich kann Len nicht heiraten, Mama«, flüsterte sie tonlos.
Nun war es an Constance Norbury, verwundert dreinzublicken. Seit Leonard Hainsworth aus dem Sudan zurück war und sich damit vertraut machte, eines Tages die Besitzungen der Familie von seinem Vater zu übernehmen, war für jedermann zu sehen und zu spüren, dass das Verhältnis zwischen ihm und Grace wieder so eng und herzenseinig war wie früher, bevor es Jeremy Danvers gegeben hatte. Was Constance mit Erleichterung und Freude beobachtet hatte, auch um Grace’ willen, denn der Schmerz ihrer Tochter hatte ihr ohnehin schon gequältes Mutterherz mitleiden lassen. Ihr Blick fiel auf die Mappe vor Grace, und als sie die Hand danach ausstreckte und über die herauslugende Ecke eines Zeitungsausschnitts strich und Grace die Augen niederschlug, wusste sie, dass sie richtig geraten hatte.
»Er kommt nicht zurück, Grace«, flüsterte sie ihrer Tochter zu. »Nicht nach über einem Jahr. Je eher du die Vergangenheit begräbst, desto besser für dich.«
Grace hob den Blick. »Hättest du so schnell aufgegeben, wenn Papa in einem
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