Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
vielleicht nicht allzu viel aus dem meinen. Ich versuch nichts weiter, als den Besitz zu erhalten, den meine Vorfahren mir hinterlassen haben. Gewiss nicht das bedeutungsvollste Lebensziel, vielleicht noch nicht einmal ein besonders lohnendes. Aber immerhin ein Ziel.«
Kurz vor dem Waldrand zügelte Grace ihre Stute und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Sorgsam schlang sie die Zügel um den Ast eines Haselnussstrauches, klopfte dem Pferd zärtlich auf die Backe und ging auf das Dickicht zu, blieb dann aber stehen. Letztes Jahr im Mai war sie schon einmal hier gewesen und gleich wieder geflohen, sie hatte es nicht ausgehalten. Sie ballte die Hände zu Fäusten, um sich selbst Mut zuzusprechen, und stapfte durch das hohe Gras, durch das Unterholz.
Das Blau vor ihr traf sie bis ins Mark, dieser See aus tiefstem Ultramarin, von Tausenden und Abertausenden Glockenblumen, deren zarter Duft die Luft erfüllte und die am Rand zu einem farbigen Dunst verschwammen. Mit zitternden Händen fuhr Grace sich über die tränennassen Wangen und stieg hinein in dieses azurne Blumenmeer und streckte sich aus auf dem Blumenbett.
Lange lag sie so da, die Augen auf das grün flirrende Laubdach der Eichen über ihr geheftet. Jeremy. Jeremy. Grace rollte sich auf den Bauch und grub die Finger in den feuchten Boden. Jeremy.
36
»Soll ich nicht lieber auf Sie warten, Miss?«, erkundigte sich der Kutscher der Mietdroschke, als Becky ihm das Geld in die Hand drückte.
»Nein, nicht nötig, ich werde später nach Hause gebracht«, erwiderte Becky hastig. Sie log nicht gern, einmal, weil es eine Sünde war, und zum andern, weil sie Lügen einfach nicht mochte, und zwar nicht, weil sie eine so überaus aufrichtige Seele war, sondern weil sie es zu anstrengend fand, Lügen bis zum Ende durchzuhalten und vor allem deren Feinheiten im Gedächtnis zu behalten. Es ist eine List , sagte sie sich selbst vor, eine List für einen guten Zweck.
Während die Droschke, die sie aus Guildford herübergebracht hatte, davonratterte, hüpfte sie die Stufen hinauf und schlug den Bronzeklopfer gegen das Holz.
»Guten Tag, Lizzie«, begrüßte sie das Hausmädchen mit einem strahlenden Lächeln, das diese mit einem Knicks und leicht ratloser Miene beantwortete.
»Guten Tag, Miss Peckham. Miss Grace ist leider nicht zu Hause.«
»Oh, ich weiß – ich bin auch mit Master Stephen verabredet«, log Becky wieder.
Lizzies Ratlosigkeit wuchs. Der junge Herr hatte der Pflegerin den halben Nachmittag freigegeben, obwohl sonst niemand im Haus war außer Miss Ada, doch die hatte sich hingelegt; derColonel ging mit Henry spazieren, Lady Norbury weilte auf Givons Grove zum Tee, und Miss Grace war über das Wochenende verreist. Und Master Stephen hatte ausdrücklich verfügt, dass er nicht gestört werden wollte.
»Wirklich!«, setzte Becky selbstsicher hinzu, und Lizzie ließ sie schließlich ein, nahm ihr Hut und Handschuhe ab.
»Ich werde ihm gleich Bescheid –«
»Ach, das ist nicht nötig«, flötete Becky. »Ich werde ihn schon finden. Weit kann er ja nicht ...« Sie biss sich auf die Lippen und verfluchte ihre übersprudelnde Art, die allzu oft in Taktlosigkeit mündete. »Ich seh selber nach«, fügte sie leiser hinzu.
»Sehr wohl, Miss Peckham. Klingeln Sie einfach, wenn Sie etwas wünschen.«
Stephen rollte den Korridor entlang zum Arbeitszimmer des Colonels, drehte den Knauf und versetzte der Tür einen kräftigen Stoß, sodass sie aufflog, rumpelte mit Schwung über die Schwelle und fuhr dann in einem Bogen rückwärts, um die Tür so leise wie möglich hinter sich zu schließen. Er wollte keine kostbare Zeit verlieren, es war ohnehin nicht ganz leicht gewesen, den richtigen Tag abzuwarten und dafür zu sorgen, dass er ungestört war, zumindest so lange, wie er für sein Vorhaben brauchen würde. Die Schlachtenszenen an den Wänden streifte er mit verächtlichen Blicken, lenkte den Rollstuhl um den Schreibtisch herum und zog die oberste Schublade auf, suchte den kleinen Schlüssel hervor und klemmte ihn sich zwischen die Zähne. Dann steuerte er die Kommode mit dem Globus darauf an, nahm den Schlüssel aus dem Mund und schloss das mittlere Fach auf, musterte die darin aufgestapelten Kassetten und begann, dazwischen herumzusuchen.
»Was haben wir da denn Schönes«, murmelte er vor sich hin. »Ah, eine Webley, wie nett! Da werden alte Erinnerungen wach.«
Angst stieg auf in Becky, nackte Angst, als sie Stephen nirgendwo fand. Mittlerweile hatte sie
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