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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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dem Gewand, strich sich das Haar zurück und verhüllte es mit der ausgeblichenen Stoffbahn, bevor sie den Kopf hob.
    »Du bist verletzt«, entfuhr es ihr. Der Stoff seines Jackenärmels, des Gewandes darunter klaffte auf und entblößte einen tiefen Schnitt, aus dem Blut tropfte, schwarz wie Teer im Licht der Nacht. Grace griff an den Saum ihres eigenen, von Sonne, Wind und Sand mürbe gewordenen Gewandes und riss es an der Seitennaht ein. »Warte.«
    »Ah«, stieß Abbas nur hervor und wollte sich abwenden.
    »Warte, hab ich gesagt!«, herrschte Grace ihn an, während sie ratschend einen breiten Streifen von ihrem Gewand abtrennte. »Zieh die Jacke aus!«
    Abbas fügte sich und tat wie geheißen. Grace klemmte sich einen Zipfel der Stoffbahn zwischen die Zähne und schob mit beiden Händen den Ärmel seines Gewandes bis zur Schulter hinauf, legte dabei einen mit dicken Muskelsträngen bepackten Arm frei. Sie hielt den Ärmelsaum mit den Fingern der einen Hand fest und nahm den Stoff aus dem Mund. »Festhalten«, wies sie Abbas an, der mit der freien Hand dieser Aufforderung nachkam. Er sah ihr zu, wie sie geschickt den behelfsmäßigen Verband um die Wunde wickelte und die Enden verknotete.
    »Wir reiten weiter«, verkündete er. »Die Nacht durch.«
    »Ja«, erwiderte Grace nur, während sie den Ärmel unter seinen Fingern hervorzog und behutsam über den Verband wieder nach unten schob. Sie würde in dieser Nacht gewiss kein Augemehr zutun, und dabei machte ihr weniger zu schaffen, dass sie getötet hatte, sondern wie kaltblütig sie dies getan hatte. Ein eisiges Entsetzen hielt sie im Genick gepackt, das sie mit jedem Atemzug aufs Neue abzuschütteln versuchte.
    Seine Pranke legte sich auf ihre Schulter, drückte sie leicht. »Gut gemacht.« Und seine Stimme klang beinahe sanft, als er hinzufügte: »Kriegerherz.«

46
    Jeremy blinzelte aus dem dünnen Schattenstreifen heraus in die grelle Sonne. Die Umrisse mehrerer Männer zeichneten sich auf dem Platz vor dem Saier ab, eine ununterscheidbare finstere Masse, die sich zielstrebig auf ihn zubewegte. Der Schweiß brach ihm aus, und er zwang das Gefühl von Angst hinunter, das ihm die Brust zudrückte wie mit einer Schraubzwinge. Stumm sagte er sich vor, er habe nichts zu befürchten, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen – obwohl er wusste, dass dies nicht unbedingt eine Rolle spielte. Nicht hier, in Omdurman. Denn was war hier schon verlässlich oder gar sicher, wenn die Willkür der Wächter und Aufseher, die Launen von Idris es-Saier Gesetz waren, über dem nur das Wort und der Wille des Khalifa standen, dem Herrscher über Leben und Folter und Tod?
    Es beruhigte ihn auch nicht sonderlich, als der Schattenriss Konturen bekam und Farben und sich in einzelne Gestalten auflöste: mehrere Derwische, die Rudolf Slatin umringten. Seine Sinne waren urplötzlich hellwach und geschärft, sein Leib angespannt, und dennoch ließ er sich nichts anmerken, als er die bloßen Füße, durch Eisen und eine Kette gefesselt, von der Lagerstatt herunternahm und sich aufsetzte. Slatin trat aus dem Kreis seiner Bewacher heraus und kam auf Jeremy zu.
    »As-salamu aleikum , namenloser Soldat «, begrüßte er ihn mit aneinandergelegten Handflächen.
    »Guten Tag, Herr Slatin «, erwiderte Jeremy auf Deutsch.
    Slatins struppige Augenbrauen hoben sich. »Sie sprechen meine Muttersprache?« Er selbst jedoch blieb beim Englischen.
    »Ein wenig.« Sich deutsche, französische und arabische Vokabeln in Erinnerung zu rufen und im Gedächtnis zu wiederholen, Gedichte lautlos zu rezitieren oder sich selbst komplizierte Rechenaufgaben zu stellen und zu lösen, bewahrte Jeremys Verstand davor, noch einmal beinahe im Wahnsinn zu versinken wie in jenen Tagen, als er im Fieber lag. Zumindest nahm er an, dass er wieder bei klarem Verstand war; ganz sicher war er sich dessen seither nicht mehr.
    »Sie gestatten?« Slatin deutete auf das angareb , das mit geflochtenen Lederstreifen bespannte Holzgestell unter Jeremy, und als dieser nickte, ließ er sich neben ihm nieder. Sein Blick fiel auf die kleine Ausgabe des Koran in französischer Übersetzung, in der Jeremy zuvor gelesen hatte, und er nahm sie zur Hand. »Haben Sie sich nun doch anders besonnen?«
    »Keineswegs. Ich nehme nur mit dem einzigen Buch vorlieb, das ich hier zur Verfügung habe. Ich denke nicht im Geringsten daran, zum Islam überzutreten.«
    »Schade.« Slatins Bart zuckte bedauernd, und er legte den Koran wieder

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