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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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dem Handrücken ein paar kleine Haarsträhnen aus der Stirn strich, wie sie schließlich den von Gräsern und Adlerfarn nahezu überwucherten Pfad einschlug, der in den Wald hineinführte.
    Ungewohnt schweigsam war sie heute Morgen gewesen, ungewohnt ernst schon den ganzen Tag, und während er unter dem Blätterdach hinter ihr herging, den kaum begangenen Weg entlang, sah er, wie eckig ihre Schultern, letzte Nacht noch so weiblich gerundet unter schmeichelndem Stoff und Federsaum, heute unter der eng anliegenden Jacke wirkten, wie energisch sie ausschritt in ihren hohen Stiefeln, als sie durch das Unterholz stapfte.
    Eine kalte Hand umklammerte seine Eingeweide, als er gewahr wurde, dass diese Umgebung, diese Situation wie geschaffen war, um jemandem unter vier Augen schonend eine schlechte Nachricht zu überbringen. Bevor alle anderen es wussten. Er dachte an letzte Nacht, an das Lachen von Leonard und Grace, wie es sich durch den Garten entfernte. Hinaus in die Dunkelheit, die Liebenden Schutz bot und einen Raum schuf für große Momente. Leonard hat mich gebeten, seine Frau zu werden. Ich habe Ja gesagt. Ich habe mich für ihn entschieden, Jeremy.
    Er wollte es nicht hören. Sie nicht dabei ansehen müssen, wenn sie ihm das Herz herausriss.
    Doch gerade als er schon umkehren wollte, ihm Feigheit wie eine Rettung erschien, eine Chance, geschunden, aber nicht gebrochen davonzukommen, tat sich vor ihnen das Dickicht auf.
    Eine Lichtung tief im Wald, geflutet von einem See aus tiefstem Ultramarin. Tausende und Abertausende von Glockenblumen knüpften dicht an dicht einen Teppich, tauchten die Sinne in Farbe, pure Farbe und in einen zarten Duft, verschwammen an den Rändern zu einem azurnen Dunst, der die Stämme der Eichen einhüllte, manche davon einsame Inseln in der Bläue, alle anderen stumme Hüter dieses Platzes.
    Es war ein magischer Ort, einem Traum entsprungen, einem Märchen oder einer alten Sage. Hier schien es nicht unmöglich, dass ein silbrig schimmerndes Einhorn zwischen den Bäumen hervorspähte oder dass irgendwo dahinter ein Drache in tausendjährigem Schlummer lag. Nur jemand mit einem Hang zu Kaltherzigkeit oder Grausamkeit würde einen Menschen hierherlocken, um ihn bis ins Mark zu verletzen. Und kaltherzig oder grausam war Grace keinesfalls; das war eines der wenigen Dinge auf dieser Welt, deren Jeremy sicher war.
    Ohne sich nach ihm umzudrehen, ohne ein Wort trat sie in das Blau hinein, als watete sie durch Wasser, und wenn die Lichtbündel, die durch Ritzen im Laub fielen, sie trafen, umgaben sie Grace mit einem Leuchtschein, ließen ihr Haar beinahe gleißend weiß erstrahlen. Als sie auf die Knie ging, sah es so aus, als ob sie versinke, und dann war nichts mehr von ihr zu sehen, als wäre sieertrunken in diesem Meer aus Blumen. Er ging ihr nach, und bei keinem seiner Schritte schien er den Boden zu berühren.
    Die Lider geschlossen, lag sie auf dem Rücken, still und reglos wie eine verwunschene Prinzessin. Nichts an der Weise, wie sie dalag, wirkte kokett, nichts aufreizend, und doch blieb Jeremy auf der Hut. Er kannte die Ränke der Frauen, er hatte zu oft erlebt, wie sie, längst einem Offizier vermählt oder versprochen, aus reinem Zeitvertreib oder aus Eitelkeit einem jungen Soldaten schöne Augen machten, bis er sich in ihren Netzen verfing und Ungemach heraufbeschwor, für das man ihn zur Verantwortung zog. Obwohl Jeremy mühsam, Lektion um Lektion, gelernt hatte, dass es sich mit Grace anders verhielt, fiel es ihm noch immer schwer, zu begreifen, dass es für sie kein Spiel war.
    Langsam ließ er sich neben ihr nieder, streckte sich neben ihr aus. Sich selbst genauso schutzlos, so vertrauensvoll diesem Meer auszuliefern, das hier unten mehr grün war denn blau, das konnte er nicht. Er wollte es auch nicht; einen Ellenbogen aufgestützt, den Kopf auf die Faust gelehnt, betrachtete er Grace.
    Sie hatte ihre Jacke aufgehakt, und unter den Biesen der dünnen Bluse hob und senkte sich ihr Brustkorb, rasch zuerst, dann langsamer, als ihr Atem sich beruhigte. So wie das heftige Pochen einer Ader an ihrem Hals abebbte und die Angespanntheit aus ihren Zügen wich.
    Grace. Ein Name wie ein Gebet. Grace.
    Sein Blick wanderte über die Wölbung ihrer Wangen, die Kinnlinie hinab und kam auf ihrem Mund zur Ruhe. Oft hatte er sich vorgestellt, wie es sich anfühlen würde, sie dort zu berühren. Wie Samt oder wie Seide? Wie die Weidenkätzchen zu Beginn des Frühlings oder wie die jungen

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