Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
hellgrünen Blättchen eines Baumes wenige Wochen später? Und was, wenn er sich dabei verbrannte, fände er es heraus, und nie mehr von ihr lassen könnte?
Er opferte eine der Glockenblumen und ließ die blauen Kelche über ihre Wange streichen. Ihre Lider zuckten, ihre Nase, auf der ein paar Sommersprossen aufschimmerten, zart wie Blütenstaub, zog sich kraus. Ihre Lippen bogen sich zu einem Lächeln, und als einer der zarten Blütenbecher gegen ihren Mundwinkel tippte, brach sie in Lachen aus. Dieses Lachen, das Jeremy so liebte, in dem alles an ihr Funken schlug.
Mehr im Reflex denn in ernsthafter Abwehr fächelte ihre Hand durch die Luft, und während der Blumenstängel zu Boden fiel, fing Jeremy ihr Handgelenk so mühelos wie ein umherfliegendes Insekt, so behutsam, als hielte er einen Schmetterling, und Grace öffnete die Augen.
Sein Griff lockerte sich, und er ließ ihre Hand in die seine gleiten, sein Daumen in ihrer Handfläche wie ein Stempel, umfasst von den Blütenblättern ihrer Finger.
»Der Colonel hat mir gestern Abend eine Predigt gehalten«, sagte er leise.
Grace lächelte. »Das sieht ihm ähnlich.«
»Er fand auch Worte der Anerkennung.«
Ihr Blick vertiefte sich. »Das ist gut.«
Jeremy schloss die Lider und hob ihre Fingerknöchel an seinen Mund und atmete den Duft ihrer Haut ein, ein Duft nach blühenden Wiesen und nach den ersten Regentropfen eines Sommertages.
Sein Zuhause war Lincolnshire, die ausgedehnte Grafschaft im Osten der Midlands, ihr gleichmütiges Antlitz überzogen von Marschland und ebenen Feldern und dunklen Wäldern. Ein schweres, ein träges Land, in dem die Uhren noch langsamer tickten als in Surrey. Zuhause, das waren drei Zimmer und eine Küche in einer Seitenstraße von Lincoln, in der Nähe der Kathedrale, und eine Umarmung seiner Mutter. Aber das war nicht der Ort, wo er hingehörte; dorthin hatte er nie gehört. Er gehörte hierher, zu Grace. Vermessen, so zu empfinden, nachgerade hoffärtig, wo er es doch bereits gewagt hatte, sich über die Grenzen hinwegzusetzen, in die er hineingeboren worden war. Und dennoch war es eine unumstößliche Wahrheit, die Grace ihn gelehrt hatte. Mit jedem Blick, mit jeder Geste, mit jedem Wort.
Sachte löste Grace ihre Finger aus seiner Hand und legte sie auf seine Wange. Cecily hatte einmal gesagt, Jeremy mache es seinen Mitmenschen unnötig schwer, ihn zu mögen oder ihn auch nur zu verstehen, weil er sich hinter der reglosen Maske seines Gesichts verschanzte. Aber das stimmte nicht; nicht, wenn man genauer hinsah. Jeremys Gesicht war wie ein aufgeschlagenes Buch, verfasst in einer winzigen, komplizierten Schrift, die Grace erst zu buchstabieren, schließlich zu lesen gelernt hatte.
Die kleinen Kniffe, die zwischen seinen Brauen erschienen, wenn er nachdachte oder erstaunt war. Die Muskeln unterhalb seiner Mundwinkel, die sich eine Spur anspannten, wenn er sich ärgerte, und wie sich seine Stirn verwarf, wenn er zornig war. Diese Mundwinkel, die sich nie aufwärtsbogen, sodass sein Lächeln immer nur halb wirkte. Selbst wenn er sprach, blieb die obere Hälfte seines Mundes seltsam unbeteiligt, so als ob Jeremy um keinen Preis die Herrschaft über seine Züge aufgeben wollte.
Allein seine Unterlippe zeigte sich veränderlich, wie sie sich an den Rändern herabzog, kurz bevor er scherzte, und voller wirkte, wenn er jemandem etwas erzählte, den er näher kannte und gut leiden konnte; sich vorwölbte, wenn Jeremy sich wohlfühlte und heiterer Stimmung war. Und manchmal, so wie jetzt, bekam sein Mund eine unerwartete Fülle, erschien weich, sinnlich beinahe, und verriet, dass er dabei war, seine Abwehr aufzugeben.
Grace’ Hand glitt hinauf, über seine Schläfe in sein dunkles Haar, das sich zu ihrer Freude genauso anfühlte, wie sie es immer vermutet hatte, jedes Mal, wenn sie ihm dabei zugesehen hatte, wie er sich hindurchfuhr und es in dicken Partien zurück an seinen Platz fiel wie glattes, sattes Fell.
In all den Jahren, in denen sie sich als ich, Grace wahrgenommen hatte – als kleines Mädchen, später als Backfisch und dann als die junge Frau, die sie heute war –, hatte sie sich niemals unvollständig gefühlt. Ein Trugschluss, wie sie inzwischen wusste. Jeremy war ihre fehlende Hälfte; nur mit ihm zusammen war sie komplett und weitaus mehr als ich, Grace . Und es verlangte siedanach, ihre Finger tiefer in sein Haar zu graben, es zu packen und Jeremy an sich zu ziehen.
»Jeremy! Grace!« – »Grace?« –
Weitere Kostenlose Bücher