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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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»Grace! Jeremy!«
    Ein unharmonischer Chor aus wohlbekannten Stimmen jenseits des Waldes, männlich und weiblich, holte Jeremy aus seiner Versunkenheit, und er öffnete die Augen. Bedauernd zwar, aber frei von Scham zog Grace ihre Hand zurück.
    »Waren wir so lange fort?«, flüsterte sie.
    Seine Unterlippe zeigte sich belustigt. »Offenbar viel zu lange.«
    Ohne übergroße Eile erhob er sich, hielt ihr die Hand hin und half ihr auf. Ein Moment der Unsicherheit, der unausgesprochenen Frage; dann verschränkte Grace ihre Finger fester mit den seinen und lächelte. Ein Lächeln, das Jeremy ihr zurückgab, so offen, dass in Grace etwas zerfloss.
    Hand in Hand gingen sie zurück zu ihren Pferden, um wieder ihre Plätze im Kreis ihrer Freunde einzunehmen. So, als ob nichts geschehen wäre.
    Als ob Grace wirklich nur Jeremy die Glockenblumen gezeigt hätte, im Wald von Givons Grove.

7
    Jenes Wochenende, das die fünf jungen Männer auf Givons Grove verbrachten, war vorerst das letzte, an dem sie eine Weile die Freiheit von Drill und Regeln genießen konnten. Der Rest des Monats Mai und fast der ganze Juni standen im Zeichen der Abschlussprüfungen, und jeglicher Ausgang war gestrichen. Die Welt der Kadetten schrumpfte auf das Gelände des Colleges zusammen, und zwischen Schlafsälen und Unterrichtsräumen, dem Billardzimmer und dem Lesesaal fühlten sie sich wie Mönche in der Abgeschlossenheit eines Klosters.
    Es war so ungerecht, sich gedanklich mit Soldstufen beschäftigen zu müssen, während die Tage durchflutet waren von Sonne! So ungerecht war es, die Eigenschaften von Schießpulver auswendig zu lernen und sich mit den Vokabeln und der Grammatik der deutschen und der französischen Sprache abzuplagen, während eine vorwärtsstürmende Kraft in der Luft lag, die nicht nur in der Natur alles ins Kraut schießen ließ, sondern auch kaum bezähmbare Lebenslust und einen ungezügelten Freiheitsdrang durch die Adern jagte.
    Nur wenige der Kadetten hielt es deshalb in den geschlossenen Räumen. Wie Schlafwandler spazierten die jungen Männer über die Freiflächen rings um das Gebäude und memorierten mit glasigem Blick die Feinheiten des Brunnenbaus und mit welchen Mitteln man die Wasserqualität bestimmte. Andere hockten an einen Baumstamm gelehnt auf der Erde, hatten Bücher um sichherum ausgebreitet und hämmerten sich deren Inhalt Wort für Wort in das Gedächtnis ein.
    »Das werde ich mir nie merken können!«
    Stephen schleuderte das Lehrbuch von sich. Raschelnd fächerten sich die Seiten im Flug auf, und dumpf plumpste es auf den Rasen, die Blätter an den Kanten umgeknickt. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen.
    Jeremy streckte sich, um das misshandelte Werk aufzuheben, glättete notdürftig die Seiten, die am meisten gelitten hatten, bevor er es zuklappte und Stephen damit gegen das Schienbein stupste.
    »Keiner von uns kauft dir ab, dass dein Hirn so weich ist wie Guildforder Käse. Du beherrschst den Stoff – jetzt musst du es nur noch schaffen, ihn auch wiederzugeben. Also, noch mal von vorn!« Als Stephen sich nicht rührte, stieß Jeremy ihn mit der Kante des Buches fester gegen das Bein. »Auf geht’s!«
    Stephen atmete tief durch und hob den Kopf, nahm ihm das Buch ab und umklammerte es wie ein Schiffbrüchiger ein auf den Wellen schaukelndes Fass. »Das ... das Karree ist ... ist eine Formation ... die ...« Seine Stimme versagte, und Furcht spiegelte sich in seinem Blick, als spürte er die Augen des Colonels im Nacken.
    Jeremy schnippte vor Stephens Nasenspitze mit den Fingern, sodass dieser zusammenzuckte, und deutete auf seine eigenen Augen. »Hier. Ich. Erzähl es mir . Erzähl mir alles, was du über das Karree weißt.«
    Wie unter Hypnose starrte Stephen ihn an, während Jeremy die Beine anzog und die Unterarme locker auf die Knie legte. »Das ... das Karree ist eine Formation der Soldaten, die ... die ... die in offensiven wie defensiven Situationen verwendet wird und ... und die ebenso flexibel wie starr sein kann. Es ... es verfügt über Kampflinien zu allen vier, manchmal auch drei Seiten hin und ist besonders geeignet, wenn ... erstens der Feind in Überzahl ist und ... und zweitens dieser keine einheitliche Formation aufweist. Das Karree stellt eine ideale Ausgangslage dar, wenn unklar ist, von welcher Seite her der Angriff erfolgen wird, und bietet außerdem im Inneren der Aufstellung einen geschützten Raum für Munitionsnachschub und

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