Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
aus seinem Dornröschenschlaf geweckt, als zahllose emsige Hände Staub wischten und Böden wienerten, Teppiche ausklopften und Silber polierten, Betten frisch bezogen und körbeweise angelieferte Schnittblumen anordneten, ging es an diesem Wochenende auf Estreham House zu wie in einem Taubenschlag. Bereits am Tag zuvor waren die ersten Gäste angereist, verschiedene Onkel und Tanten von Royston nebst Cousins und Cousinen aus Devon und Northumberland, einige Hainsworths aus Lincolnshire, Shropshire und Kent sowie die beiden Schwestern von Lady Grantham aus Lancashire und Durham. Der heutige Tag brachte weitere Ströme von Freunden, Verwandten und Bekannten, die über ein pied-à-terre in London verfügten und die Nacht nach der Verlobungsgesellschaft dort verbringen würden, wie die Basildons aus Berkshire, in deren Familie Roystons Schwester Lydia eingeheiratet hatte, und die zu seiner anderen Schwester Blanche gehörigen Osbournes aus Yorkshire. Und bevor all die Lords und Ladys, die sich mit Teetasse und Champagnerglas in der Hand im Garten versammelten, das junge Paar gänzlich vereinnahmen konnten, stahlen sich Royston und Cecily mit ihren aus Surrey eingetroffenen Freunden zu einem Rundgang durch das geschichtsträchtige Haus davon. Nur Tommy fehlte; er hatte noch nicht herausgefunden, wie er sich dem fortwährenden Kopftätscheln seiner Tanten entwinden, den entzückt girrenden Ausrufen wie »Nein, was bist du doch grooooß geworden!« entgehen konnte, ohne als ungezogen zu gelten.
»Wenn die hochverehrten Ladys und Gentlemen mir bitte folgen wollen!« Royston machte eine einladende Geste die Treppe hinauf. Hinter ihm gingen Grace, von Cecily in Beschlag genommen, und Leonard. Ada und Simon, sich dessen bewusst, ganz unter sich und den Freunden zu sein, hielten sich wie selbstverständlich an der Hand, und Becky, mit großen Augen und mit offenem Mund staunend, stieg neben Stephen die Stufen hinauf; in einigen Schritt Abstand folgte schließlich Jeremy.
»Früher einmal war hier viel Blattgold verarbeitet«, erklärte Royston und fuhr mit der Hand über das Geländer aus kaffeedunklem Holz. In verschwenderischem Schnitzwerk rahmtenflorale Ornamente Streitrösser und Rittergestalten, Kanonen, Wappenschilde und Schwerter ein, und kunstvoll ausgearbeitete Obstkörbe krönten die Pfosten am Ende jedes Treppenabsatzes. »Das hat aber über die Jahrhunderte sehr gelitten, und weil mein Vater es im Gesamtbild zu überladen gefunden hätte, ließ er die verbliebenen Reste entfernen, anstatt sie zu erneuern.«
Gemälde unterschiedlicher Stilrichtungen, Mobiliar von jakobinisch bis georgianisch, Deckenmalereien und Tapisserien, Leuchter aus Silber und Messing und Bronze, Wandbespannungen aus Damast und Seide und sogar aus gemustertem und geprägtem Leder – es sprach für das Verhältnis der Ashcombes zu diesem Haus, dass sie es bislang nicht in einem moderneren Stil umgestaltet hatten. Roystons Liebe zu diesem Haus, sein Stolz auf dessen Vergangenheit spiegelten sich nicht nur in seinem warmen Blick wider und in der Art, wie er sich durch die Räumlichkeiten bewegte, wie er Holz und Stein berührte; seine Empfindungen für dieses Bauwerk schlugen sich auch in einem tiefen Vibrieren seiner Stimme nieder.
»Der ist von Asprey«, flüsterte Cecily Grace zu und betrachtete verliebt den Ring an ihrer linken Hand, den ganzen Tag schon Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Ein Dutzend kleiner Diamanten versprühte bei jeder von Cecilys Bewegungen regenbogenfarbene Funken und umschloss einen daumennagelgroßen Opal, der wie für Cecily gemacht schien: Je nach Lichteinfall schimmerte seine gesprenkelte Oberfläche in den Farben der zukünftigen Viscountess Amory auf – in dem kühlen Gold ihres Haares, in einem Blau, das mit der Strahlkraft von Cecilys Augen wetteiferte, und in dem zarten Ton ihrer rosigen Wangen. »Eine Rarität!«
Vom Treppenhaus traten sie auf einem filigran gemusterten Parkettboden in einen scheinbar endlosen Korridor. Royston ging mit ausgebreiteten Armen rückwärts, lenkte damit das Augenmerk der anderen auf die goldgerahmten Porträts, die sich auf der warm schimmernden Holztäfelung der Wände aneinanderreihten. »Das hier ist die große Galerie.« Seine Stimme hallte von den Wänden und der hohen Decke wider. »Hier könnt ihr einer ganzen Reihe meiner Vorfahren in die Augen sehen, angefangen bei Edward Charles Ashcombe, dem ersten Earl, und seiner Gemahlin Philippa Lydia, die uns unser blaues
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