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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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nur kurz die Augen zu schließen, um ihn vor sich zu sehen, wie er im Cranleigh Waters stand. Aufrecht, die Hand im nassen Haar, und sie anblickte. Ohne Scheu. Beinahe herausfordernd. Als ob er es genoss, dass sie ihn so sah.
    Ihre Hand presste sich flach auf den Deckel des Buches, und der Pulsschlag unter ihrem Daumenballen wurde zu einem heftigen Pochen. Jeremy , flüsterte es in ihr. Jeremy.
    Auf demselben Stockwerk, aber auf der anderen Seite des Innenhofs, lag Jeremy auf dem Rücken und starrte an die Decke, frohdarüber, in Simons Abwesenheit das Gästezimmer ganz für sich zu haben. Grace’ Augen, die aus dem Laub hervorspähten, verfolgten ihn. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre auf sie zugewatet, hätte sie die Böschung hinabgezogen, zu sich ins Wasser, um dem Verlangen nachzugeben, das er in ihren Augen hatte aufglänzen sehen und das dem seinen so sehr glich. Wie es ihm zunehmend schwerfiel, in Grace’ Gegenwart zurückhaltend zu bleiben, nach all den Tagen, die sie unter demselben Dach zugebracht hatten, zwar den Tisch miteinander teilten, aber nicht das Bett, scheinbar endlose Stunden, aber nicht ihr Leben. Nicht genug für Jeremy, nicht nach diesen Tagen, und es war in dieser Sommernacht, dass er sein Innerstes erforschte, wie stark sein Wille sein mochte und wie groß sein Mut.

14
    Die Tage dieses Sommers rannen ihnen durch die Finger wie Wasser aus dem Cranleigh, ebenso klar und sprudelnd und gewichtslos. Zügig wie die Sensen der Bauern die Getreidefelder abmähten, schritt der August voran, sein Antlitz geprägt von messingfarbenen Stoppelfeldern und von hellgoldenen Heugarben, deren trockener, kräftiger Geruch die Luft erfüllte. Seine Farben, allen voran das Grün, waren nicht mehr frisch, sondern leicht verschossen von der Sonne und wie mit einer Patina überzogen; sein staubbeladenes, ginstergelbes Licht hatte an Schärfe eingebüßt und verwischte alle Konturen. Dem August fehlte die Spritzigkeit des Juni, die Leichtigkeit des Juli; er kannte aber auch noch nicht die in Sonnenfarben getauchte Geschäftigkeit des September. Sein Wesen war von einer satten Gemächlichkeit, in der die Birnen und Äpfel an den Ästen sich färbten und zu ihrer vollen Süße reiften. Und obwohl die Schatten länger wurden, lag der Gedanke an den Herbst noch in weiter Ferne, in diesem Jahr, das mit einem solch sonnigen und trockenen Sommer gesegnet war.
    Auf Shamley Green schien es gar, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Als ob der Sommer ewig fortdauern würde. Aber vielleicht wollte man hier auch einfach nur, dass dieser Sommer nie zu Ende ginge, all diese Tage des Zusammenseins, angefüllt mit Scherzen und Lachen und Fröhlichkeit; all die Tage in den Wiesen und in den Wäldern und im Garten. Jene Tage, an denenJeremy und Grace wie auf ein Zeichen hin von ihrem Buch aufschauten, die Andeutung eines Lächelns auf dem Gesicht und sie sich dann wieder in ihre Lektüre vertieften und Leonard ihnen dabei aufmerksam zusah. Jene Tage, in denen Ada und Simon nur dafür lebten, einander hinter den Stamm einer Eiche zu entführen, in einen dunklen Winkel des Hauses und in den Schatten, der des Nachts die Rotunde im Garten mit Finsternis flutete. Für all die heimlichen Küsse und geflüsterten Zärtlichkeiten lebten sie, für all diese verbotenen und gestohlenen Momente, die ihnen doch nichts anderes waren als ihr gutes Recht.
    Vater Zeit aber scherte sich seiner Natur gemäß nicht um die Wünsche der jungen Leute auf Shamley Green. Efeubekränzt und rauschebärtig, die Sense in der einen, die Sanduhr in der anderen Hand, schritt er unbeirrbar vorwärts und zählte Stunde um Stunde ab, Tag um Tag, bis das letzte Wochenende im August gekommen war.
    Eine Dunstglocke stand über der Themse, und dort, wo sich ihre stahlblaue Bahn zu einer engen Biegung krümmte, zwischen Kingston im Süden und Richmond im Norden, mit Sicht auf ein baumbestandenes Inselchen im Fluss, erstreckten sich die Gärten von Estreham.
    Die diesige Luft, erfüllt von der Sonne des Spätsommers, tauchte das Anwesen in ein weiches Licht und ließ den Quader aus umbrabraunem und schmeichelnd weiß abgesetztem Backstein schimmern wie einen Topas auf dem saftig grünen Samt des Rasens. Mit seinen Türmen, fialengleichen Schornsteinen und den Reliefs über den Arkaden hatte Estreham fast etwas von einem Schloss, ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit, der glorreichen Epoche der Tudors und der Stuarts.
    Schon seit einigen Tagen

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