Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
hatte, zu Weihnachten; dem Weihnachten, das er und die anderen jungen Männer bereits auf Malta verbracht hatten. Ihre Schwester wirkte in sich gekehrt, seit Simon fort war, fast noch stiller als früher, aber zugleich so, als ruhte sie in sich selbst, und immer lag in ihren Augen ein ganz besonderer Glanz, der zuvor noch nicht da gewesen war. Ada schien weder besonders unglücklich darüber zu sein, dass ihr gesellschaftliches Debüt zunächst einmal um ein Jahr verschoben worden war, noch darüber, dass sie nicht zurück ans Bedford durfte. Als wäre sie damit zufrieden, in ihrer kleinen Welt zu sein und ihre Tage zwischen dem Piano und den Büchern und ihren Farben und Pinseln zu verbringen. Nur wenn ein Brief von Simon eintraf, lebte sie auf, riss ihn ungeduldig auf und las ihn auf der Stelle, ein verzücktes Lächeln auf ihren Zügen – und missbilligend beobachtet vom Colonel, und doch schritt er weder ein noch sagte er etwas dazu.
Grace ging weiter und blieb vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters stehen. Sie lauschte einen Augenblick und klopfte dann selbstsicher an.
»Herein!«
Colonel Norbury sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an, die er seit dem Frühjahr bei Schreibarbeiten trug. »Grace!«
»Hast du einen Moment Zeit für mich, Papa?«
»Sicher.« Er nahm die Brille ab, und Grace schloss die Tür hinter sich. »Setz dich doch.«
Sie ging über den tannengrün und tabakbraun gemusterten Teppich zum Schreibtisch und ließ sich auf dem Stuhl davor nieder, Jeremys kostbaren Brief noch immer in der Hand. Mit der anderen langte sie nach unten, um Gladdy in seinem Korb die Flanken zu streicheln. Bei ihrem Eintreten hatte der Setter denKopf gehoben und müde mit der Rute gewedelt. Jetzt ließ er den Kopf wieder sinken und gab einen Laut von sich, der halb ein tiefes Schnaufen und halb ein zufriedenes Brummen war.
»Ich höre«, sagte der Colonel leicht knurrig.
Grace richtete sich auf. Sie schätzte lange Vorreden und weitschweifige Einführungen ebenso wenig wie ihr Vater und brachte ihr Anliegen deshalb sogleich freiheraus vor. »Ich würde gern ans Bedford zurück.«
Der Colonel schürzte die Lippen unter dem Bart, legte die Brille auf die Papiere vor sich und lehnte sich zurück. »Das kommt nun doch etwas überraschend, findest du nicht?«
»Ich wollte gründlich darüber nachdenken, bevor ich dich frage.«
Ihr Vater schob die Brille ein Stück nach links und fuhr mit der Kuppe des Zeigefingers über den Bügel. »Woher dieser plötzliche Sinneswandel?«
Grace’ Augen wanderten durch den Raum, der in ihrer frühen Kindheit noch kahl und spartanisch eingerichtet gewesen war. Erst nach und nach, mit jedem Besuch des Colonels, hatte er sich gefüllt und nach der endgültigen Rückkehr des Vaters aus Indien die Ausstattung erhalten, die bis heute unverändert geblieben war. Hinter den Glastüren der Schränke schlummerten ledergebundene Bücher in exakt ausgerichteten Reihen. Auf dem mit Filz bezogenen Tisch unter dem Fenster war eine Karte ausgebreitet und mit Nadeln an den vier Ecken festgesteckt. Ein Briefbeschwerer aus Messing in Form einer Götterstatute, eine silberne Schatulle und ein Steinbrocken mit dem Teil eines figürlichen Reliefs waren außerdem darauf verteilt, um die Karte plan zu halten, und aus dem Fach unter der Tischplatte schauten die Enden mehrerer Dutzend zusammengerollter Karten hervor. Ein Globus stand auf der Kommode, in der ihr Vater die Kassette mit seinen ganzen Orden und Regimentsabzeichen aufbewahrte und wo er seine Pistolen unter Verschluss hielt. Auf der grün bespannten Wand kreuzten sich Säbel und Schwerter mit buntenBändern und Troddeln am Heft; blitzblank polierte Gewehre mit ziselierten Beschlägen reihten sich in ihren Halterungen untereinander. Dazwischen hingen gerahmte Karten, kolorierte Stiche und Gemälde mit Szenen aus den Schlachten, in denen Colonel Norbury gekämpft hatte, die Namen der Schauplätze und die Daten in glänzende Metallschildchen eingraviert. Schlacht an der Alma, 1854. Mudki, 1845. Aliwal, 1846. Inkerman, 1854. Ferozeshah, 1845. Gefecht von Rowa, 1858. Sobraon, 1846. Kriege, die auf Shamley Green kaum je Gesprächsgegenstand gewesen waren.
»Ich komme um vor Langeweile«, sagte Grace schließlich. »Ich kann einfach nicht mehr länger nur herumsitzen!«
Eine Braue des Colonels hob sich. »Du könntest weitere Aufgaben auf Shamley übernehmen. Hier gibt es mehr als genug zu tun.«
Verwunderung zeichnete sich auf dem Gesicht
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