Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
die Jahre ausgehalten?«
»Du meinst«, sorgfältig zog Constance Norbury die Nadel mit dem roten Garn durch den straff gespannten weißen Stoff, »während euer Vater noch in Indien war?«
»Ja.« Grace ging hinüber zum Kanapee und setzte sich neben ihre Mutter. »Das muss doch sicher schwer für dich gewesen sein.« Sie schlüpfte aus den Schuhen und zog die bestrumpften Beine an, drückte die Wange gegen die Lehne und sah ihre Mutter an.
Constance Norbury schmunzelte und stach die Nadel wieder hindurch. »Nun, unter Langeweile habe ich gewiss nicht gelitten mit Shamley und mit euch Kindern. Ihr habt mich ganz schönauf Trab gehalten.« Sie warf ihrer ältesten Tochter einen schnellen Blick zu. »Du ganz besonders.«
Grace lachte leise und wurde dann wieder ernst. »Du musst Vater doch schrecklich vermisst haben ... Warum bis du nicht mit ihm dort geblieben? Du hattest doch davor fast dein ganzes Leben in Indien verbracht.«
Ihre Mutter nickte. »Eben deshalb. Ich habe miterlebt, wie Frauen in der Garnison schwer erkrankten und starben, und ich hielt manch eine in den Armen, die gerade ihr kleines Kind am Fieber verloren hatte. Und nach dem Aufstand ...« Sie ließ sich Zeit, bis sie weitersprach. »Wenn du einmal eine Frau in deinem Haus sitzen hattest, abgerissen und zu Tode erschöpft von der Flucht und mit einem schweren Schock, nachdem sie mit knapper Not dem blutrünstigen Mob entkommen ist, ihr Kind aber nicht retten konnte ...« Ihre Brauen zogen sich zusammen, und unvermutet energisch zupfte sie an dem Faden, der nicht auf Anhieb geschmeidig genug durch das Gewebe gleiten wollte. »Wir in Bengalen hatten Glück, uns ist nichts passiert. Aber gerade dann denkt man umso häufiger daran, ob es nicht noch einmal zu einem ähnlichen Ereignis kommen könnte und ob man dann ebenso verschont bliebe.« Constance Norbury ließ ihre Handarbeit sinken und sah ihre Tochter unverwandt an. »Ich habe Indien sehr geliebt, und das tue ich heute noch. Aber ich habe immer gewusst, dass ich meine Kinder nicht dort bekommen und großziehen will. Das hatten dein Vater und ich vor unserer Hochzeit bereits vereinbart.« Sie streckte die Hand aus und umfasste zärtlich das Kinn ihrer Tochter. »Und als wir dann wussten, dass du unterwegs bist, hat dein Vater Sonderurlaub beantragt, ich habe schnell meine Sachen gepackt und mich von ihm nach Shamley bringen lassen, in die Obhut deiner Großmama.« Grace lächelte bei der Erwähnung ihrer Großmutter. Wenn ihr auch nach all den Jahren nur wenige Erinnerungen an sie geblieben waren, so waren es doch gute Erinnerungen: an einen weichen Schoß und an Arme, in denen sie sich als ganz kleines Mädchen geborgengefühlt hatte; an eine liebevolle Stimme und an den Duft von Vanille und Veilchen.
Ihre Mutter widmete sich wieder ihrer Stickerei, und Grace’ Gedanken wanderten weit, weit über Shamley Green und Surrey hinaus, nach Indien, wo ihre Mutter und ihr Vater sich begegnet waren und geheiratet hatten. Lange bevor Becky ihr eine grobe Ahnung davon vermittelt hatte, wo die kleinen Kinder herkamen, hatte Grace gewusst, dass es sie schon gegeben hatte, als ihre Mutter noch in Indien war; eine Grace in einem seltsamen, namenlosen und nicht greifbaren Zustand. Und sie hatte einige Zeit damit verbracht, in sich hineinzuhorchen, ob diese allererste Zeit im Mutterleib auf indischem Boden sie in irgendeiner Weise geprägt hatte. Immer wieder hatte sie das geschnitzte Tischchen im Schlafzimmer ihrer Eltern betrachtet, den bronzenen Elefantengott auf dem Frisiertisch ihrer Mutter, und einmal – und dafür hatte sie einen tüchtigen Klaps auf die Finger bekommen – hatte sie sogar den Stapel bunter Seidensaris aus dem Schrank gezogen, die sich ihre Mutter als junges Mädchen gekauft hatte, weil ihr die Farben und Muster so gefielen, obwohl sie sie nie hatte tragen können. Doch nie mochte sich bei Grace eine Erinnerung an etwas Fremdes, Exotisches einstellen, und irgendwann hatte sie aufgehört, über ihren Ursprung im fernen Bengalen nachzudenken. Grace war und blieb durch und durch englisch, einmal davon abgesehen, dass ihr Leibgericht nicht Lammpastete war. Sondern ein höllisch scharfes Curry, von Bertha zu besonderen Gelegenheiten nach einem Rezept zubereitet, das Constance Norbury aus Calcutta mitgebracht hatte. Erst übers vergangene Jahr hatte Grace wieder begonnen, darüber nachzudenken – und darüber, wie es wohl sein möge, in einem fremden Land zu leben, und sei es nur für
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