Jenseits von Feuerland: Roman
blutige Kratzer hinterließ. Doch diese Kratzer waren nichts im Vergleich zu den Wunden, die diese fremde Frau zeichneten. Fast jedes Fleckchen Haut war von einem dunklen Schleier bedeckt – getrocknetem Blut.
Emilia schrie auf. Ob dieses panischen Lauts zuckte die Frau zusammen, blieb erstmals stehen und blickte sich um, als erwache sie aus einem bösen Traum. Nur mehr wenige Schritte trennten die beiden voreinander.
Emilia schlug die Hand vor den Mund, um einen neuerlichen Aufschrei zu dämpfen. Am schwarzen Haar und der braunen Haut erkannte sie, dass die junge Frau eine Mapuche sein musste. So frei von Runzeln ihr Gesicht war, war sie wohl in ihrem Alter. Dennoch sackte sie nun auf die Knie wie ein kraftloses, altes Weib. Emilia sah, dass nicht nur Gesicht, Hände und Leib mit Kratzern und Blut bedeckt waren, sondern auch die Fußsohlen. Das eine Auge war blau verschwollen, in den verfilzten Haaren hingen Blätter, Nadeln und Zweige.
»Gütiger Himmel! Was ist denn mit dir passiert?«
Der Blick der Frau traf sie, als sie sich über sie beugte, doch in den schwarzen Augen las sie weder Erleichterung, auf jemanden zu treffen, noch Furcht vor einer Fremden, sondern nur Leere.
Emilia wusste nicht, von welchem Schrecken dieser leere Blick kündete, dennoch krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie hatte sich den Tod, so er denn menschliche Gestalt annehmen würde, immer als alten Mann gedacht – nun glaubte sie kurz, ihm in der Gestalt dieses Mädchens zu begegnen.
»Was ist passiert?«, fragte sie wieder.
Eigentlich erwartete sie keine Antwort – das Mädchen sah nicht so aus, als würde es sie verstehen oder als hätte es genügend Kraft, zu reden.
Doch plötzlich öffnete es den Mund.
»Bitte … bitte … hilf mir.«
Die Stimme war erschreckend leise, aber Emilia verstand die Worte. Obwohl das Mädchen nichts mit einer Deutschen gemein hatte, sprach es dennoch diese Sprache.
»Was …«, setzte Emilia an und brach ab, als sie sah, wie der Oberkörper der Frau erneut heftig wankte. Ihre Hand schnellte zu der Schulter, um sie zu stützen, und kurz blieb sie stehen, um laut rasselnd ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Doch alsbald machte sie sich von Emilia los, sprang auf und stolperte auf blutigen Füßen weiter.
»Hinter … mir … her … Bitte hilf mir … schnell …«
Emilia konnte sich keinen Reim auf die Worte machen, aber plötzlich ertönte Hufgetrampel. Es war ein vertrautes Geräusch, denn die Siedler besaßen einige Pferde, befremdend war jedoch, dass sich so viele Reiter – dem Vibrieren des Bodens nach mindestens ein Dutzend – auf einmal näherten.
Die Fremde war zusammengezuckt. Als sie die Augen aufriss, stand keine Leere mehr darin, sondern Angst, pure, blanke Todesangst.
»Soldaten«, presste sie mühsam hervor, »das sind Soldaten. Sie sind hinter mir her … Sie wollen mich töten …«
Ihre Stimme versagte, ihr Fuß blieb im Gras hängen, und sie drohte zu fallen. Rasch griff Emilia wieder nach ihrer Schulter, um sie zu stützen. Sie wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte – nur, dass die Frau in höchster Gefahr war und dass sie ihr helfen musste.
»Komm mit!«
Hastig zog sie die junge Frau in Richtung der Häuser. Jeder Schritt schien der Unglücklichen Qualen zu bereiten, denn sie keuchte herzerweichend. Dennoch begann sie nun zu laufen, und auch Emilia beschleunigte angstvoll ihre Schritte. Das Pferdegetrampel hinter ihrem Rücken kam indes immer näher.
»Schnell! Helft mir! So helft mir doch!«
Irgendwie hatte die beiden es geschafft, bis zum Haus zu rennen, doch auf der Schwelle war die junge Frau plötzlich auf die Knie gesunken. Trotz der Panik in ihren Augen – sie konnte nicht mehr weiter. Emilia versuchte, sie hochzuziehen, aber es gelang ihr nicht. Obwohl der Körper so schmächtig war, war er viel zu schwer für sie.
»So helft mir doch!«
Endlich kam ihr eine der Frauen, die hier in diesem Haus lebten, entgegengeeilt: Es war Annelie von Graberg, Manuels Großmutter und irgendwie auch die von Emilia. Sie waren zwar nicht blutsverwandt, aber Emilia hatte viele Stunden ihrer Kindheit im Haus der Grabergs und an Annelies Seite verbracht.
Wie so oft trug Annelie eine Kochschütze umgebunden. Man traf sie meistens vor dem Herd an – aber in diesen Tagen kochte sie noch mehr als sonst, galt es doch, verschiedene Gerichte auszuprobieren, die sie für Emilias Hochzeit zubereiten wollte.
»Gütiger Himmel!«, rief sie beim Anblick des
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