Jenseits von Feuerland: Roman
geschundenen Mädchens entsetzt. »Was ist denn diesem armen Geschöpf zugestoßen? Wo kommt sie her?«
Mehl staubte von ihren Händen, als sie sie über dem Kopf zusammenschlug.
»Sie wird von Soldaten verfolgt!«, rief Emilia atemlos. »Wir müssen sie ins Haus bringen!«
Anstatt ihr zu helfen, wich Annelie zurück. In ihren Augen stand aufrichtiges Mitleid, aber die schlimmen Verletzungen des Mädchens stießen sie offenbar zu sehr ab, um beherzt zuzugreifen.
Eine andere tat es an ihrer statt – Barbara Glöckner, die, von den Schreien alarmiert, ebenfalls nach draußen geeilt kam. Barbara war eine Tirolerin aus dem Zillertal, deren Familie sich schon vor Jahrzehnten den deutschen Siedlern angeschlossen hatte, und sie war gerade damit beschäftigt gewesen, Emilias Hochzeitskleid zu nähen.
Beherzt packte sie das Mädchen unter dem einen Arm, indes Emilia den anderen ergriff, und wenig später hatten sie es mit vereinten Kräften in die Stube geschleppt – keinen Augenblick zu früh. Als Emilia sich umblickte, sah sie, wie die Reiter aus dem Wald kamen.
»Wir … wir müssen sie irgendwo verstecken!«, rief Emilia.
Annelie starrte erst fassungslos auf die Soldaten, die nun auf das Haus der Grabergs zugaloppierten, dann auf die verwundete Frau.
»Wer hat sie nur so zugerichtet?«, schrie sie auf. »Warum sind ihre Beine so blutig?«
»Sie scheint tagelang gelaufen zu sein«, meinte Barbara nachdenklich.
»Ihre Haut ist so dunkel«, stellte Annelie fest, »das ist eine Mapuche …«
»Ganz gleich, wer sie ist, wir müssen ihr helfen!«, rief Emilia dazwischen. »Sie hat gesagt, dass die Soldaten sie töten wollen!«
Das Mädchen rührte sich nicht mehr – es war in tiefe Ohnmacht versunken. So hörte es auch nicht, wie die Männer von den Pferden sprangen, mit lauten Schritten aufs Haus zutraten, klopften.
Die anderen Frauen zuckten angstvoll zusammen.
»Was sollen wir nur tun?«, rief Annelie ein ums andere Mal.
»Wenn wenigstens Lu und Leo da wären«, seufzte Barbara.
Lu und Leo waren die älteren Brüder von Manuel und somit Emilias zukünftige Schwäger – stattliche Männer alle beide, die es auch mit einer Truppe von Soldaten aufnehmen würden. Doch wie so oft waren sie auf der Jagd, damit es bei der Hochzeit genügend Fleisch gab.
Emilia huschte zum Fenster und blickte nach draußen. Das Klopfen wurde lauter, einige der Soldaten riefen durcheinander. Obwohl in der Siedlung fast nur Deutsch gesprochen wurde, hatte Emilia ein wenig Spanisch gelernt – vor allem nach der missglückten Reise nach Valparaíso, auf der ihr nicht zuletzt die mangelnden Sprachkenntnisse fast zum Verhängnis geworden waren. Sie glaubte zu verstehen, dass die Männer auf eine Rothaut fluchten.
»Was sollen wir nur tun?«, rief Annelie wieder.
Barbara zuckte hilflos die Schultern. Das Mädchen rührte sich nicht. Das Pochen war mittlerweile so durchdringend, dass Emilia befürchtete, die Tür würde brechen.
Da ertönte hinter ihnen eine Stimme.
»Wollt ihr nicht aufmachen?«, fragte Christine Steiner ungeduldig, Manuels Großmutter väterlicherseits und eine der ersten deutschen Siedlerinnen am Llanquihue-See – aufgrund ihrer Lebensleistung respektiert, aufgrund ihrer Strenge gefürchtet.
»Sie dürfen das Mädchen doch nicht finden!«, sagte Emilia verzweifelt. »Sie wollen sie töten.«
Christine hatte eben noch hinter dem Webstuhl gesessen. Nun schob sie ihn beiseite und erhob sich mit unterdrücktem Ächzen. Ihr weißes Haar löste sich wegen der abrupten Bewegung aus dem Knoten im Nacken und wehte im Luftzug wie Spinnweben. Ohne Fragen zu stellen, befahl sie resolut: »Barbara, Annelie! Ihr versteckt das Mädchen oben in der Stube! Und du, Emilia, du kommst mit mir raus. Du musst übersetzen. Und gib mir meinen Stock!«
Die Frauen folgten dem Befehl augenblicklich. Emilia fand den Stock nicht sofort, sondern stolperte in der Aufregung fast über den Webstuhl. Christine seufzte ungeduldig, das Pochen wurde noch lauter, dann war der Stock endlich gefunden, und Emilia reichte ihn der alten Frau.
Annelie und Barbara hatten das Mädchen mittlerweile nach oben gebracht, doch Emilia war sich sicher: Wenn die Soldaten sich gewaltsamen Einlass verschafften, würden sie es dort sofort finden. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und ihre Hände wurden schweißnass, als sie an Christines Seite den Soldaten entgegentrat.
Als die Tür abrupt geöffnet wurde, stürmten die Soldaten nicht ins Haus, wie
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