Jenseits von Feuerland: Roman
Schauder zu unterdrücken. Eiskalt rieselte es ihr über den Rücken. Wenn die Männer so beharrlich nach einem harmlosen Mädchen suchten, dann hatte das wohl nur einen Grund: Sie wollten die unliebsame Zeugin einer schrecklichen Bluttat ausschalten, damit diese die Gerüchte über die Massaker nicht bestätigen konnte.
Der Soldat, der vorgab, das Mädchen gesehen zu haben, schritt auf Christine zu, doch die wich keinen Jota. Sie schien keineswegs verängstigt, vielmehr verärgert, und das wohl weniger, wie Emilia insgeheim vermutete, weil das arme Mädchen, sondern vielmehr ihre Ruhe in Gefahr war. Christine misstraute grundsätzlich allen Fremden.
»Ach«, höhnte sie jetzt. »Ihr habt ein Mädchen gesehen! Und die Regierung Chiles beauftragt also ein Dutzend Männer, um einem solchen Mädchen nachzujagen? Ich sage euch etwas: Als wir Deutschen einst hierherkamen und das Land besiedelten, da war keiner da, um uns zu helfen. Damals hätte die Regierung ruhig ein paar Soldaten schicken können, aber stattdessen mussten wir jede Araukarie mühsam selbst fällen. Und wir mussten ganz alleine die Straßen bauen, die den See mit Puerto Montt verbanden. Mein guter Mann Jakob, Gott hab ihn selig, ist von den Ästen eines Baums fast erschlagen worden. Er hat zwar überlebt, konnte danach jedoch nie wieder laufen.«
Emilia hörte Jakob Steiners Namen nicht zum ersten Mal. Christine erzählte oft Geschichten aus der entbehrungsreichen Anfangszeit – sie waren faszinierend beim ersten Mal, ziemlich langweilig allerdings, wenn man schon um ihren Ausgang wusste und sie dennoch Wort für Wort wiederholt wurden.
»Das tut uns alles herzlich leid, gute Frau«, murrte der Offizier. »Aber das ändert nichts daran, dass sich das Mädchen hier irgendwo versteckt hat. Lasst uns vorbei, damit wir nach ihm suchen können.«
Wieder machte er einen Schritt auf Christine zu – wieder wich sie nicht zurück.
»Lasst uns ins Haus!«, forderte der Mann.
»Dieses Haus haben meine Söhne errichtet, nicht ihr. Und darum werdet ihr es nicht betreten.« Herausfordernd hob sie den Stock, auf den sie sich bis jetzt gestützt hatte. »Was ist? Wollt ihr euch gewaltsam Zutritt verschaffen? Hat euch die chilenische Regierung auch damit beauftragt, deutsche Frauen niederzuschlagen, die aus dieser Einöde hier ein fruchtbares Land gemacht haben? Unser Weizen wird bis nach Valparaíso verkauft und nährt dort die Menschen. Und das soll der Dank sein?«
Der Offizier runzelte die Stirn – auch der andere blickte nicht mehr ganz so kalt, sondern vielmehr beschämt. Der Rest wirkte der ganzen Sache überdrüssig. »Es ist doch nur ein Mädchen«, murmelte einer. »Es ist die Mühe nicht wert«, meinte ein anderer. Obwohl er nur raunte, verstand Emilia auch seine nächsten Worte: »Auch wenn es etwas erzählt – wer glaubt denn so einem jungen Ding?«
Stille senkte sich über sie. Man konnte förmlich sehen, wie es hinter der Stirn des jungen Offiziers arbeitete. Im Töten war er gewiss schneller als im Denken, durchfuhr es Emilia.
»Wie viel meiner kostbaren Zeit wollt ihr noch verschwenden?«, fragte Christine ungeduldig, die den Stock nun wieder sinken ließ, aber sich nicht mehr darauf stützte – als wäre sie noch eine junge, kräftige Frau, die den ganzen Tag auf dem Feld oder im Kuhstall stand.
»Die Rothäute sind gefährlich«, entgegnete der Offizier. »Ihre Überraschungsangriffe sind im ganzen Land gefürchtet.«
Christine lachte spöttisch auf. »Sehe ich so aus, als hätte ich vor irgendetwas Angst? Pah! Dazu bin ich viel zu alt. Und vom Leben zu oft geprüft worden.«
»Trotzdem – es gibt viele Aufstände der Rothäute. Erst vor kurzem haben sie Traiguén überfallen.«
Emilia musste sich mit aller Macht zusammenreißen, damit sie nicht empört den Kopf schüttelte. Der Angriff auf Traiguén, so hatte es ihr Vater erzählt, war kein Akt der Rebellion gewesen, sondern der verzweifelte Kampf ums Überleben – leider kein besonders aussichtsreicher: Die Stammesführer der Mapuche waren nicht mächtig wie einst und konnten die oftmals zerstrittenen Stämme nicht einen, was dringend notwendig gewesen wäre, um gegen die Chilenen Erfolg zu haben. Der Überfall auf Traiguén war folglich gescheitert und ihren Gegnern gerade recht gewesen, um noch grausamer zurückzuschlagen und der Freiheit Araukaniens endgültig ein Ende zu setzen.
Der Offizier starrte Christine missmutig an.
»Es ist eure Entscheidung, ob ihr unseren
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