Jenseits von Gut und Böse
Allgemeinverständlichkeit des Textes versäumt habe. Zwar fürchte ich, dass die nachfolgenden Ausführungen zum »starken, naturalistischen Emergenz-Prinzip« schwerer zu verdauen sind als die sonstigen Teile dieses Buches, sie sind jedoch, wie ich meine, von solch grundlegender Bedeutung für eine naturalistische Sicht der Dinge, dass sich eine Beschäftigung mit dieser komplexen Thematik (trotz erhöhten Kopfschmerz-Risikos) lohnen dürfte. 1
Fragen wir uns also: Was ist »Emergenz«? Abgeleitet ist der Begriff vom lateinischen Verb emergere , das »auftauchen, hervorkommen, sich zeigen« bedeutet. Ernst Mayr, einem der Pioniere der »Synthetischen Evolutionstheorie«, zufolge meint »Emergenz«, dass »in einem strukturierten System auf höheren Integrationsebenen neue Eigenschaften entstehen, die sich nicht aus der Kenntnis der Bestandteile niedrigerer Ebenen ableiten lassen«. 2 Der Begriff »Emergenz« kennzeichnet also jenes merkwürdige Phänomen, das den griechischen Philosophen Aristoteles schon vor rund zweieinhalb Jahrtausenden beeindruckte: Gemeint ist die Erfahrung, dass das Ganze offensichtlich mehr ist als die bloße Summe seiner Teile . 3
In unserer Welt können wir überall emergente Phänomene beobachten. Ein triviales Beispiel hierfür ist eine Uhr, die, sofern ihre Bestandteile funktionstüchtig und in der richtigen Ordnung zusammengefügt sind, Systemeigenschaften aufweist (nämlich das Potential zur Zeitmessung), die ihre Einzelteile (etwa die Zahnräder oder Schrauben) nicht besitzen. Nun ist eine Uhr ein recht einfaches, mechanisches Ding, dessen emergente Systemeigenschaften wir (zumindest auf den ersten Blick) leicht physikalisch erklären können. Völlig anders sieht dies jedoch aus, wenn wir uns komplexere Emergenzphänomene vor Augen führen, wie etwa das folgende:
Das emergente System, das den Namen »Michael Schmidt-Salomon« trägt, besteht aus Atomen und Molekülen, die zuvor möglicherweise Bestandteile der Flosse eines Hais waren, des Blatts eines Ahornbaums oder des Kots einer Riesenschildkröte. Wie erklären wir uns, dass ein System, das aus solch merkwürdigen physikalisch-chemischen Einzelteilen zusammengesetzt ist, in seiner jetzigen Konfiguration ausgerechnet scharfe indische Küche liebt, dicke Bücher über Willensfreiheit schreibt und über den skurrilen Humor von »Monty Python’s Flying Circus« lacht? Allgemeiner gefragt: Lassen sich biologische oder kulturelle Phänomene restlos auf chemische oder gar physikalische Prozesse zurückführen oder sind derartige Erklärungsmuster bei genauerer Betrachtung doch nicht hinreichend ?
In den letzten 100 Jahren wurden viele unterschiedliche Konzepte von Reduktionismus und Emergenz entwickelt. 4 Das Spektrum der Ansätze reicht vom radikalen »eliminatorischen Reduktionismus«, der meint, alle Phänomene der Biologie und Kultur vollständig auf physikalische Prinzipien zurückführen zu können, bis hin zur Idee einer »starken, anti-naturalistischen Emergenz«, die unterstellt, dass emergente Prozesse (etwa philosophische Gedankengänge) eben nicht durch Ursachen auf niederer Integrationsebene (etwa neuronale Aktivitäten) determiniert werden.
Mikrodetermination: Das universelle Kausalprinzip
Meine eigenen Überlegungen laufen auf ein Modell hinaus, das ich als » starkes, naturalistisches Emergenz-Prinzip « bezeichnen möchte. Naturalistisch ist dieses Konzept, weil es in ihm selbstverständlich »mit rechten Dingen zugeht«. Das heißt, dass das (zumindest oberhalb der Quantenebene) universell gültige Kausalprinzip durch das Auftreten emergenter Phänomene nirgends durchbrochen wird. Mein Begriff von »Emergenz« steht also nicht im Widerspruch zum naturalistischen Prinzip der Mikrodetermination. Vielmehr müssen wir weiterhin den Strom der »aufwärtsgerichteten Verursachung« beachten, demzufolge physikalische Prozesse chemische Prozesse determinieren, die ihrerseits biologische Prozesse bestimmen, welche wiederum kulturellen Prozessen zugrunde liegen.
Es gibt demnach keine kulturellen Prozesse, die den grundlegenden biologischen, chemischen und physikalischen Determinanten widersprechen! Das heißt: Wenn auf emergenter Ebene (etwa der Kultur) ein Ursachen-Wirkungs-Verhältnis vorliegt (»Die emergente Ursache U1* erzeugt → die emergente Wirkung W1*«), so muss ein damit korrespondierendes Ursachen-Wirkungs-Verhältnis auch auf niederer Integrationsebene (etwa der Biologie) existieren (»Die basale Ursache U1
Weitere Kostenlose Bücher