Jenseits von Timbuktu
Ordnung war. Erst als sie unmittelbar davorstand, entdeckte sie es.
Aus einem langen Schnitt am linken Unterarm Anna-Dora Carvalhos sickerte Blut. Bettdecke und Laken waren blutdurchtränkt. Anita sah es, bekam aber keine Verbindung zu dem, was sich da vor ihr abspielte. Verständnislos starrte sie auf die besudelte Bettwäsche, die rot glänzende Lache auf dem hellen Teppich. Den Schnitt, der blutrot auf der weiÃen Haut ihrer Mutter klaffte.
Ein Blutstropfen quoll aus der Wunde. Wie hypnotisiert folgte sie seinem Weg. Er kroch übers Handgelenk in die halb geöffnete Hand ihrer Mutter und rann schlieÃlich zwischen den Fingern herunter und fiel lautlos auf den Teppichboden.
Erst jetzt begriff sie. Sie schrie auf, geriet für Sekunden in kopflose Panik, rannte hinaus auf den Balkon, hechelte dabei, als bekäme sie nicht genug Sauerstoff. Als sie endlich zu sich
kam, ging ihr auf, dass Blut nur dann aus einer Wunde lief, wenn das Herz noch pumpte. Ihre Mutter lebte noch! Sie rannte zurück ins Zimmer, legte einen bebenden Finger an den Hals ihrer Mutter, fühlte zu ihrer grenzenlosen Erleichterung ein schwaches Pochen.
Während sie zum Bad hastete, schnappte sie sich ihr Handy, wählte im Laufen 112. Die Notrufstelle meldete sich sofort, und Anita erklärte, was vorgefallen war, gab mit ruhiger Stimme ihre Adresse an, während sie den Medikamentenschrank nach Verbandszeug durchwühlte. Nachdem ihr versichert worden war, dass der Notarzt auf dem Weg sei, lief sie mit Binden, Mull und Pflaster im Arm zurück ans Bett ihrer Mutter.
Eine der Binden schlang sie hastig zu einem dicken Knoten, den sie als Aderpresse auf dem blutenden Handgelenk benutzte, und legte darüber einen strammen Druckverband an. Mit angehaltenem Atem wartete sie, starrte auf den Verband, der sich auf der Unterseite schon rot färbte. Aber bald versiegte das Blutgetröpfel. Sie atmete auf und zog vorsichtig den rechten Arm ihrer Mutter unter der Decke hervor. Auch hier klaffte ein langer Schnitt. Schnell versorgte sie auch diese Wunde, fragte sich voller Sorge, nach welchem Zeitraum eine Aderpresse wieder gelockert werden musste.
Abermals ertastete sie die Halsschlagader der Kranken, bekam feuchte Augen, als sie noch Leben spürte. Sie überlegte, ob sie ihre Mutter auf die andere Bettseite rollen sollte, um das Laken und die Bettdecke, die steif von trocknendem Blut waren, abzuziehen, dabei bemerkte sie etwas WeiÃes auf dem Boden vor dem Nachttisch. Sie bückte sich und hielt eine offene Medikamentenschachtel in der Hand. Als sie die Schachtel herumdrehte, fiel ihr eine Blisterpackung entgegen. Sie las den Namen eines sehr starken Schlafmittels. Nicht das, was Dr. Witt ihrer Mutter verschrieben hatte. Dieses stammte aus Spanien, und die Packung war leer.
Wie gelähmt hielt sie die Pappschachtel in der Hand, konnte keinen zusammenhängenden Gedanken fassen. DrauÃen jaulte eine Sirene die StraÃe herunter, und der durchdringende Ton riss sie aus ihrer Benommenheit. Ein Auto bremste scharf vor dem Haus. Sie sprang hoch, rannte zur Tür und riss sie auf. Zwei Sanitäter und ein Notarzt standen vor ihr.
»Sie liegt im Schlafzimmer. Ich glaube, sie hat auch Schlafmittel geschluckt â¦Â« Sie stotterte vor Aufregung und zeigte aufs Schlafzimmer.
Die drei Männer in ihren roten Reflektorjacken drängten an ihr vorbei und liefen den Korridor entlang zum Schlafzimmer.
»Verflucht«, entfuhr es einem der Sanitäter, als er die blutverschmierte Bettwäsche und die Blutlache auf dem Boden sah. »Da dürfte nicht mehr viel drin sein.«
Die darauffolgenden Minuten verschwammen für Anita in einem dichten Nebel. Der Arzt und die beiden Sanitäter waren ein eingespieltes Team und arbeiteten konzentriert und schnell.
Dabei verschob einer von ihnen das Kopfkissen, das auf der unbenutzten Seite des Bettes lag. Es fiel auf den Boden, und ein Blatt liniertes Papier, das darunter gelegen hatte, kam zum Vorschein.
Anita hob es auf. Sie erkannte, dass es eine herausgerissene, leere Seite war, die aus dem Heft des Berichts über die Odyssee ihrer Eltern quer durch Afrika nach Südafrika stammte. Eine von den Dutzend Seiten, die hinten unbeschrieben geblieben waren, denn nach 1972 brach der Bericht abrupt ab.
Hatte ihre Mutter etwas schreiben wollen? Einen Abschiedsbrief? Anita lehnte an der Wand und spürte den Drang zu schreien, etwas zu zerschlagen. Warum
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