Jenseits von Timbuktu
Gästezimmer. Ihre Mutter hatte sich nicht gerührt. Regungslos hockte sie auf der Bettkante, protestierte aber nicht, als Anita sie hinüber ins groÃe Schlafzimmer zu dem Doppelbett führte. Widerstandslos legte sie sich in die Kissen.
Anita stellte den Koffer ihrer Mutter ans FuÃende und saà noch eine Weile neben ihr, streichelte ihr die Hand, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und überlegte, ob und wie sie es schaffen konnte, ohne Frank weiterzuleben. Sie blieb am Bett sitzen, bis es klingelte. Es war Dr. Witt.
Er stellte seinen tropfenden Regenschirm im Flur ab. »Es schüttet fürchterlich«, sagte er freundlich. »Ihre Mutter ist krank, sagten Sie am Telefon?«
Dr. Witt war ein Mann um die fünfzig, und Anita kannte ihn schon seit Jahren. Sie schätzte seine präzisen Diagnosen und die schnörkellose, aber einfühlsame Art, wie er mit seinen Patienten umging. Mit nüchternen Worten berichtete sie ihm von dem, was auf dem Segelboot geschehen war.
Er wurde blass. »Mein Gott, Anita. Das ist ja entsetzlich. Aber was ist mit Ihnen? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Impulsiv legte er ihr eine Hand fest auf die Schulter. Sie spürte seine Wärme durch das dünne T-Shirt, und das gab ihr fast den Rest.
Sein Mitgefühl warf sie um. Sie versteifte sich, ballte die Hände
zu Fäusten und spannte jeden Muskel an. Es kostete sie eine ungeheure Kraftanstrengung, sich nicht in seine Arme zu werfen und ihre Trauer hinauszuschreien. Schroff wehrte sie ihn ab und ging ihm mit hölzernen Schritten voraus ins Schlafzimmer. Dr. Witt folgte ihr mit seinem Arztkoffer.
Ihre Mutter war wach, aber obwohl sie die Augen geöffnet hatte, ging ihr Blick ins Leere. Sie schien Dr. Witt nicht einmal wahrzunehmen. Er zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Anita ging hinaus, stellte sich im Wohnzimmer ans Fenster und starrte hinaus, ohne etwas zu sehen.
Es dauerte einige Zeit, ehe der Arzt wieder aus dem Schlafzimmer kam. Ohne Umwege teilte er ihr mit, dass ihre Mutter sofort ins Krankenhaus verlegt werden müsse. »Auf die â¦Â« Er zögerte nur kurz, bevor er weitersprach. »Auf die Psychiatrie.«
»Nein«, sagte Anita. »Sie bleibt hier. Sie ist alles, was ich noch habe. Ich werde für sie sorgen und alles tun, was Sie mir sagen, aber meine Mutter bleibt bei mir.«
Dr. Witt musterte sie und nickte dann, als hätte er diese Reaktion erwartet. Er schrieb ihr zwei Rezepte aus und reichte sie ihr. »Das ist für Ihre Mutter. Etwas zum Schlafen und ein Mittel gegen Depressionen. Und das ist für Sie. Auch ein Schlafmittel. Sie müssen endlich mal eine Nacht zur Ruhe kommen. Ich komme morgen wieder, dann besprechen wir alles Weitere. Ihre Mutter braucht einen Facharzt, und zwar dringend.« Er zog sein Mobiltelefon hervor, rief die Apotheke an und veranlasste, dass die benötigten Medikamente umgehend geliefert wurden.
»So, das ist geregelt«, sagte er und steckte das Telefon ein. »Ich werde einen Termin mit einem mir bekannten Psychiater machen und sage Ihnen dann Bescheid. Natürlich können Sie beziehungsweise Ihre Mutter selbst entscheiden, ob Sie den Termin wahrnehmen wollen. Ich würde Ihnen aber dringend dazu raten. Morgen um neun rufe ich Sie an.« Danach verabschiedete er sich und ging.
Anita stellte ihrer Mutter ein Glas Wasser auf den Nachttisch, schloss die Tür und ging ins Gästezimmer. Als sie sich aufs Bett fallen lieÃ, merkte sie, dass sie tatsächlich todmüde war.
Irgendwann schlief sie ein, wanderte von einem Albtraum zum nächsten, wachte dazwischen in kurzen Abständen durchgeschwitzt und mit Herzrasen auf. Am nächsten Morgen war sie wie gerädert. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits halb zehn war und die blinkende Anzeige auf ihrem Telefondisplay zeigte an, dass Dr. Witt angerufen hatte. Sie sprang aus dem Bett und rannte hinüber zum Schlafzimmer, klopfte leise und öffnete die Tür. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Zu ihrem Erstaunen bemerkte Anita, dass der Koffer ihrer Mutter geöffnet worden war. Sie musste aufgestanden sein, um irgendetwas herauszuholen. Dabei hatte sie wohl das Wasserglas auf dem Nachttisch umgestoÃen. Es lag zerbrochen auf dem Boden.
Ihre Mutter schien noch zu schlafen. Ihre Lider waren geschlossen, ein Arm hing über die Bettkante. Auf Zehenspitzen ging Anita zum Bett, um sich zu vergewissern, dass alles in
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