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Jenseits von Timbuktu

Jenseits von Timbuktu

Titel: Jenseits von Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gercke Stefanie
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hatte ihre Mutter das getan? Ohne jede Erklärung, ohne ihr zu sagen, was wirklich passiert war. Warum wollte ihre Mutter sie verlassen? Für immer. Freiwillig. Sie schlug mit der Faust an die Wand, bis die Haut am Knöchel aufplatzte.

    Kurz darauf hüllten die Sanitäter ihre Mutter behutsam in eine goldfarbene Isolierdecke und hoben sie anschließend auf die Trage. Ein blutverschmierter Arm rutschte unter dem Tuch hervor und baumelte über die Seite.
    Anita wurde so unvermittelt schwarz vor Augen, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Sie fiel mit einem Schrei aufs blutbesudelte Bett und kam erst zu sich, als sie merkte, dass der Notarzt ihr eine Spritze gab.
    Â»Nur zur Beruhigung, damit Sie schlafen können. Sie können jetzt ohnehin nichts für Ihre Mutter tun. Bis morgen ist sie mit Sicherheit nicht ansprechbar. Gibt es jemanden, der zu Ihnen kommen könnte?«
    Sie schüttelte nur den Kopf. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, dass ihre Mutter inzwischen auf der Trage festgeschnallt war und aus dem Zimmer geschoben wurde.
    Der Arzt legte die Instrumente in seinen Koffer zurück. »Wir müssen uns beeilen  – rufen Sie Ihren Hausarzt an, damit der sich um Sie kümmert«, rief er ihr entschuldigend zu, während er den Sanitätern im Laufschritt folgte. Sekunden darauf schlug die Wohnungstür zu, und sie war allein in der drückenden Stille.
    Sie schwankte, tastete sich an der Wand entlang ins Badezimmer, zog ihre mit Blut verschmutzte Kleidung aus und schlüpfte in Jeans und ein sauberes T-Shirt. Im Wohnzimmer fiel sie auf die Couch, während sich das Beruhigungsmittel schnell in ihrem Körper ausbreitete. Es dauerte bis zum späten Abend, ehe die Wirkung der Spritze etwas nachließ, dass ihre Gedanken aufhörten, wie demente Fliegen herumzuschwirren. Sie hasste diese Benommenheit, die bleischweren Glieder, den trockenen Mund, die wirren Gedanken. Als sie endlich die Wirkung so weit abgeschüttelt hatte, dass sie aufstehen konnte, rief sie im Krankenhaus an und erkundigte sich nach ihrer Mutter.
    Â»Es wäre besser, wenn Sie morgen früh hierherkommen, dann
können Sie mit dem Arzt sprechen«, wurde ihr ausweichend geantwortet. »Telefonisch darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«
    In dieser Nacht schlief Anita nicht mehr.
    Der Arzt im Krankenhaus, ein jüngerer Mann mit einer wirren, dunklen Haartolle und langen bleichen Händen, teilte ihr mit, dass ihre Mutter ins Koma gefallen sei und es fraglich sei, ob sie je wieder daraus erwachen werde. Auch wäre es bislang nicht sicher, ob sie durch den immensen Blutverlust einen Schaden am Gehirn davongetragen habe.
    Â»Reden Sie viel mit ihr. Das hilft oft«, bemerkte er mit Mitleid in seiner Stimme. »Nehmen Sie sich Zeit.«
    Zeit hatte sie. Sie, die als Biologin mit einigen zusätzlichen Semestern Pharmakologie in einem kleinen, aber feinen Forschungslabor für innovative Kosmetik als Laborleiterin arbeitete, war mittlerweile auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben worden.
    Gleich nach dem Unglück hatte sie darauf bestanden, dass sie durchaus arbeiten könne. An ihrem ersten Arbeitstag nahm sie im Laborgebäude ihren üblichen Weg vorbei an den Käfigen der Äffchen, die für die Tests gebraucht wurden. Ganz ohne Versuchstiere gehe es nicht, wurde ihr auf ihre Fragen versichert. Es gab keine Alternative. Jeden Morgen musste sie diesen Weg nehmen, schon für einige Jahre, und wie jeden Morgen wollte sie sich auch jetzt abwenden. Der Anblick von Tieren, die gefangen in einem Käfig saßen, konnte sie auch nach all diesen Jahren nur schwer ertragen.
    Nur einmal in ihrem Leben war sie in den Zoo gegangen, als Dreizehnjährige, und hatte anschließend nächtelang Pläne geschmiedet, wie sie sich hineinschleichen und die Käfige dort öffnen könnte. Natürlich fand sie heraus, dass der Zoo nachts und die Käfige immer fest verschlossen waren und dass ein Haufen Wächter auf dem Gelände patrouillierten. Sie schrieb einen flammenden Brief an den Zoodirektor, der ihre Empörung rührend
fand und ihr zwei Freikarten für den Zoo sandte. Wütend hatte sie die Tickets in kleine Stücke gerissen, in einen Umschlag gesteckt und ihm zurückgeschickt.
    Doch an diesem Tag schaute sie aus irgendeinem Grund nicht rechtzeitig weg und sah sich unvermittelt mit den so erschreckend menschlich wirkenden winzigen Gesichtern

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