Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits von Timbuktu

Jenseits von Timbuktu

Titel: Jenseits von Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gercke Stefanie
Vom Netzwerk:
konfrontiert. Das Flehen in den dunklen Augen, die zusammengekauerte, fötale Haltung, löste eine Bilderflut aus. Gesichter von Kleinkindern wirbelten mit denen der Äffchen durcheinander, die  – halb wahnsinnig vor Angst festgeschnallt und mit Elektroden am Kopf  – die Laborversuche ertragen mussten. Die Bilder schoben sich übereinander, und aus den Äffchen wurden Menschenbabys. Sie meinte ihr eigenes Kind zu spüren, wie es in ihrem Bauch wuchs, und sie begann unkontrolliert zu zittern. Ihr wurde heiß und wieder kalt, und dann wurde ihr schwarz vor Augen.
    Eine Laborantin fand sie. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Fliesenboden, ihre Zähne schlugen aufeinander, sie konnte kein zusammenhängendes Wort hervorbringen, geschweige denn wieder aufstehen. Ihre Kollegin rief den Betriebsarzt, der sofort entschied, dass sie auf keinen Fall arbeitsfähig sei, und sie mit der Auflage nach Hause schickte, schleunigst einen Psychotherapeuten aufzusuchen.
    Aber Anita fand sich außerstande, das Seelenchaos, das in ihrem Inneren herrschte, überhaupt in Worte zu fassen, schon gar nicht einem fremden Menschen gegenüber. Zwei Tage später spürte sie einen heißen Schmerz im Unterleib und fing an zu bluten. Sie wusste sofort, dass ihr jetzt nichts mehr von Frank geblieben war.
    Danach lag sie einfach apathisch im Bett, trank nur ab und zu etwas, aß das, was sie in der Küche fand. Cracker, Dosentomaten, Käsestangen. Ein paar Macadamianüsse unbestimmten Alters. Sie schmeckten dumpf. Bald vergaß sie, überhaupt etwas zu essen.
Sie spürte keinen Hunger. Niemand kümmerte sich um sie, denn sie hatte niemand von ihrer Rückkehr unterrichtet. Ihre Freunde glaubten, dass sie und Frank nach wie vor auf Mallorca waren. Nur ihre Mutter wusste von dem Unglück, aber diese Information war in deren komatösem Gehirn verschlossen.
    Franks Eltern hatte sie natürlich unterrichtet. Es war schwierig gewesen, sie zu erreichen, und als sie seinen Vater endlich per Satellitentelefon sprechen konnte, teilte der ihr mit, dass sie das Projekt am Amazonas nicht vorzeitig abbrechen könnten.
    Â»Wir können mit unserer Anwesenheit auch nichts ändern«, sagte er. »Kopf hoch, Anita. Noch gilt er als verschollen. Gib die Hoffnung nicht auf. Wir werden ihn noch nicht für tot erklären lassen.«
    Danach hatte sie einen stundenlangen Weinkrampf erlitten, bis sie keine Tränen und keine Kraft mehr hatte und ihr nur endlose Erschöpfung und eine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben blieben. Wie ein vertrocknetes Blatt im Wind trieb sie ziellos durch die Tage. Tagelang hatte sie mit geschlossenen Augen im Bett gelegen, ganz still, und versucht sich davonzustehlen, einfach aufzuhören zu sein. Dabei fiel ihr ein Roman von Simone de Beauvoir ein, in dem der traurige Held zur Unsterblichkeit verurteilt war, sich nicht traute, sich zu verlieben, weil er wusste, dass seine Geliebte sterblich war und ihn irgendwann verlassen musste und er wieder allein sein würde. Einmal hatte er sich mehrere Jahrzehnte hinter eine Hecke gelegt und sich angestrengt, endlich zu sterben. Was ihm nicht gelungen war.
    Ihr auch nicht, obwohl sie zwei Wochen lang wirklich alles daransetzte. Schließlich stand sie wieder auf, riss alle Fenster in der Wohnung weit auf, stopfte den Inhalt einer angebrochenen Packung weich gewordener Butterkekse in sich hinein, die wie Flussmoder schmeckten, erbrach sich danach prompt, wobei ihr Franks Verlobungsring vom Finger rutschte. Sie musste massiv
abgenommen haben. In ihrem Kühlschrank befand sich nichts Essbares, aber sie entdeckte eine Dose Ravioli ganz hinten im Gewürzschrank, die sie aufwärmte. Die Nudeltaschen waren klebrig und zu salzig, aber sie würgte sie hinunter und behielt sie tatsächlich bei sich. Anschließend räumte sie in der Küche auf, kroch zurück ins verwühlte Bett und schlief eine Nacht, einige Stunden zumindest. Am nächsten Morgen duschte sie ausgiebig, schob die Post beiseite, die sich auf dem Dielenboden stapelte, lief im Platzregen zwei Straßenecken weiter zum Supermarkt und kaufte ein. Brötchen, Butter, Eier, Milch und was man sonst noch für ein ausgiebiges Frühstück brauchte. Zu Hause machte sie sich Rührei auf Brötchen und Kaffee und schlang alles hinunter. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und fuhr ihren Computer hoch.
    Als Erstes

Weitere Kostenlose Bücher