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Jenseits von Timbuktu

Jenseits von Timbuktu

Titel: Jenseits von Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gercke Stefanie
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stornierte sie die Tickets, die ihre Mutter ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, musste dabei natürlich schon wieder an Frank denken und konnte nicht verhindern, dass sie sich anschließend für Stunden die Seele aus dem Leib weinte. Am selben Nachmittag noch fuhr sie ins Krankenhaus, ergriff die Hand ihrer Mutter und schwieg, fand, dass sie einfach nichts sagen konnte. Ein scharfer, heißer Schmerz füllte sie vollständig aus, verdrängte jedes andere Gefühl, verdrängte alle Worte, alle Gedanken. Sie klammerte sich an der Hand ihrer Mutter fest, um diesen Schmerz irgendwie auszuhalten.
    Irgendwann stieß eine Schwester geräuschvoll die Tür auf und eilte ans Bett der Kranken. Geschäftig zog sie das Laken gerade und schüttelte das Kissen auf. Sie streifte Anita mit einem Seitenblick.
    Â»Reden Sie mit ihr. Das hilft. Von Ihrer Kindheit vielleicht? Von Ereignissen, die bedeutend für Ihre Mutter waren.« Ihre Stimme war unerträglich munter. »Wollen Sie einen Kaffee? Nein? Na, wenn Sie Durst haben  – dahinten steht eine Flasche Wasser.« Die Tür fiel wieder zu.

    Anita saß bewegungslos da. Ihr Inneres schien zu Stein geworden zu sein. Lange waren nur ihre und die schwachen Atemzüge ihrer Mutter im Zimmer zu hören, manchmal das Geräusch vorbeifahrender Autos, gedämpft durch die geschlossenen Fenster. Entfernte Stimmen, Hundegebell. Metallisches Klappern auf dem Gang der Station. Die Minuten verrannen. Sie saß da, bis es urplötzlich aus ihr herausbrach.
    Â»Timbuktu«, sagte sie.
    Und da reagierte ihre Mutter. Heftig schlug sie mit den Armen um sich, kämpfte darum, sich aufzurichten, strengte sich furchtbar an, einen Satz hervorzupressen. Aber es gelang ihr nicht, so sehr sich Anita auch um sie bemühte. Sanft ließ sie ihre Mutter wieder in die Kissen gleiten und begann zu reden.
    Von Afrika, der Sahara und von Timbuktu. Besonders von Timbuktu. Aber Anna-Dora Carvalho zeigte nie wieder eine Reaktion darauf, egal, wie häufig ihre Tochter darüber sprach. Beharrlich redete Anita weiter. Von den bunten Märkten dort erzählte sie, der Hitze am Tag und dem unbeschreiblichen Sternenhimmel bei Nacht. Sie wanderte durch das Leben ihrer Eltern, hielt aber stets einen großen Sicherheitsabstand zu ihrem eigenen. Und nie streifte sie jenen heißen Julitag auf dem Meer vor Mallorca auch nur mit einem einzigen Wort.
    Jeden Tag erzählte Anita ihr stundenlang von ihrem Leben, alles, was sie in den Jahren über die abenteuerliche Durchquerung Afrikas von ihr und ihrem Vater gehört hatte.
    Nach einer Weile begann sie, sich vorher Notizen zu machen, das aufzuschreiben, woran sie sich von den Erzählungen ihrer Eltern erinnerte, um vielleicht irgendwann auf das eine Wort zu stoßen, das ihre Mutter zurück ins Leben holen würde.
    Doch Anna-Dora Carvalho reagierte nicht einmal mit einem Liderzucken. Sie lag regungslos im Bett, die Lider geschlossen, tiefe Linien im Gesicht, die vorher nicht da gewesen waren. Ihre Sonnenbräune war längst verblasst, ihre Haut so weiß wie ihr
Haar, so als hätte alles Blut aufgehört zu zirkulieren. Sie war zu einem durchsichtigen Schatten geworden, verloren in ihrer Welt, unerreichbar für ihre Tochter.
    Â 
    Nach drei Wochen wurde Anna-Dora Carvalho aus dem Krankenhaus in ein Pflegeheim entlassen. Der Arzt glaubte nicht, dass sie wieder aus dem Koma erwachen würde. Anita aber hoffte weiter, erzählte ihr von Afrika, streichelte sie, stellte unzählige Fragen, auf die sie nie eine Reaktion erkennen konnte, fragte auch nach Zululand, und weil sie keine Antworten auf diese Fragen erhielt, wurde sie manchmal so wütend, dass sie sich kaum beherrschen konnte. Als würde ein glühender Ballon in ihr platzen und eine heiße Zornesflamme in den Kopf schießen. Einmal schaffte sie es nicht, sich zu beherrschen. Sie explodierte.
    Â»Herrgott, wach endlich auf!«, schrie sie und schüttelte ihre Mutter. »Ich will verdammt noch mal Antworten haben! Und ich will wissen, was mit Frank passiert ist.«
    Sofort eilte eine Schwester herbei und wollte wissen, was hier vor sich gehe, wer da so geschrien habe.
    Â»Ich habe mir den Musikantenknochen am Arm gestoßen und laut aufgeschrien«, log Anita schnell und rieb sich demonstrativ den Ellbogen. Die Schwester zog beruhigt wieder ab.
    Ihre Mutter hatte sich trotz des Lärms nicht gerührt. Wieder bekam

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