Jenseits von Timbuktu
hindurchquetschen konnte. Er drehte sich um, um sie für Lia aufzuhalten.
Aber Lia drängte sich mit Gewalt an ihm vorbei, kletterte über die zwei toten Löwen und lief zum Sicherheitstor. Für Sekunden stierte sie mit leerem Ausdruck auf das blutige Schauspiel im Hof, das vom Licht des starken Scheinwerfers bis ins kleinste Detail ausgeleuchtet wurde. Eines der jüngeren Männchen war nach dem letzten Schuss aufgeschreckt wieder zurück in die Dunkelheit des Geländes entwischt. Die verbleibenden drei Löwen lieÃen sich nicht beim Fressen stören. Sie hoben nur kurz den Kopf, blinzelten und kauten weiter. Einem hing ein grellbunter Stofffetzen aus dem Maul. Von Maurice war nur noch der Kopf einigermaÃen unverletzt, Len Pienaar war nicht mehr zu erkennen.
Wie eine Marionette hob Cordelia Carvalho wieder ihr Gewehr. Sie steckte den Lauf durch die Metallstreben und schoss, lud durch und schoss wieder. Lud durch und erschoss auch den letzten Löwen im Hof. Der Donner der Schüsse hallte von den Hofwänden wider und verursachte bei Dirk ein vorübergehendes Knalltrauma, dass es ihm in den Ohren schepperte. Die Raubkatzen, die sich unmittelbar am Zaun aufhielten, verschwanden mit wenigen Sätzen in die Nacht. Wieder lud Anitas Schwester durch. Sie zerschoss den Scheinwerfer, und die grausige Szene wurde vom tiefen Schatten ausgelöscht. Im schwachen Licht des Mondes leuchtete Lias versteinertes Gesicht leichenblass.
Das Ganze hatte keine zwei Minuten gedauert.
Dirk war mit einem Satz über den Löwenkadaver gesprungen und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Holztür des Gebäudes. »Anita! Bist du da drinnen?« Er lauschte, aber auÃer dem Klingeln in seinen Ohren vernahm er kein anderes Geräusch.
Lia war neben dem Sicherheitstor auf dem Boden zusammengesunken, mitten in der Blutlache, die sich um den Mähnenlöwen ausgebreitet hatte. Auf Dirks Frage, ob sie Anita gesehen habe, reagierte sie nicht, sondern stierte mit leeren Augen auf den blutbesudelten Betonboden.
Dirk rieb sich die Schläfen. Sein Gehirn war wie betäubt. Wie eine Blitzlichtaufnahme sah er Anita am Sicherheitstor stehen und hörte diesen grauenvollen Schrei, der nicht enden wollte. Wie konnte sie aus der Futterstelle verschwinden, ohne dass er sie gesehen hätte? Er spähte durch die Maschen der Eingangstür. Das war der einzige Weg hinaus, und er wurde auf beiden Seiten von jener meterhohen Bretterwand begrenzt. Nie im Leben hätte sie dieses Hindernis überwinden können. Auch das dornenbewehrte Tor hätte sie unmöglich so schnell aufschieben können.
Wieder lief sein Blick die Bretterwand hoch. Selbst wenn sie daran hochgeklettert sein sollte, so leichtsinnig, freiwillig ins Löwengehege zu springen, war sie mit Sicherheit nicht. Nicht Anita.
Blieb nur die Möglichkeit, dass sie dazu gezwungen worden war. Aber von wem? Maurice und Len Pienaar waren tot, und auÃer Anita hatte sich kein anderer Mensch im Haus oder im Vorplatz aufgehalten. Er starrte ins Gehege. Der Busch zeichnete sich als kompakter schwarzer Schattenriss gegen den samtblauen Nachthimmel ab. Nichts regte sich, und doch manifestierte sich in ihm allmählich die schreckliche Ahnung, dass er womöglich etwas übersehen hatte.
Dirk Konrad erlebte ein Gefühl, über das er bisher nur in Romanen gelesen und das er immer als alberne Metapher angesehen hatte: Sein Herz sank ihm in die Hose. Bis unter die Kniekehlen. In seinem Kopf gellte noch ihr Schrei, und es überfiel ihn eine Angst, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Als einer, der sich seit fast zwei Jahrzehnten seinen Lebensunterhalt mit der Kamera verdiente, dachte er zwangsläufig in Bildern. Die
Bilder, die ihm von Anitas Schicksal jetzt vor Augen standen, waren mehr, als er verkraften konnte.
Anita, mitten zwischen den Löwen. Anita, von Prankenhieben zerfetzt. Anita in ihrem Blut. Anita tot.
Der Wind hatte gedreht, verwirbelte den klebrigen Blutgeruch und vermischte ihn mit dem Raubkatzengestank, der sich unter dem Bambusdach gefangen hatte. Er bekam eine volle Ladung davon ab und musste sich in hohem Bogen übergeben. Als nichts mehr herauskam, fischte er ein Papiertaschentuch aus der Hose und wischte sich immer noch reflexartig würgend, den Mund ab. Er warf das Taschentuch zusammengeknüllt in die Ecke und schlang sich die Arme um den Leib. Mitten in der tropisch warmen Nacht fror er. Noch
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