Jerry Cotton - 0560 - Den Tod auf Flaschen gezogen
Er kam fraglos aus der versiegelten Wohnung. Ich preßte mein Ohr gegen das glattlackierte Holz. Ich vernahm Schritte und ein leises Klappgeräusch. Dann war es wieder still.
Das unverletzte Siegel machte mir klar, daß der Jemand in Myrna Collins’ Apartment nicht die Wohnungstür benutzt hatte. War er über die Feuerleiter gekommen und durch ein Fenster eingestiegen? Auch das war wenig wahrscheinlich. Auf der Außentreppe saßen mindestens ein halbes Dutzend Menschen. Einer von ihnen hätte den Eindringling doch bemerken müssen!
Hatte das Apartment einen zweiten, geheimen Zugang, der es mit einer Nachbarwohnung verband? Das war unwahrscheinlich.
Ich glaubte vielmehr, daß der Unbekannte die Stunde der Dämmerung benutzt hatte und über die Feuerleiter in das Apartment gelangt war. Zu dieser Zeit hatten die meisten Hausbewohner vermutlich ihr Abendessen eingenommen oder vor den Fernsehgeräten gesessen.
Ich fragte mich, was der Unbekannte suchte. Eastons Leute hatten Myrnas Apartment mit professioneller Gründlichkeit durchsucht. Was mochte den heimlichen Besucher veranlassen zu glauben, daß sie etwas übersehen haben konnten?
Ich lehnte mich neben den Lift an die Wand und wartete. Es lag auf der Hand, daß der Unbekannte seinen Rückzug nicht über die Feuerleiter antreten würde. Für ihn war es einfacher und ungefährlicher, die Wohnungstür zu benutzen. Daß dabei das Siegel verletzt werden würde, konnte ihn nach getaner Arbeit kaum stören.
Ich wartete etwa drei Minuten, dann sah ich, wie sich der Drehgriff der Tür langsam bewegte. Ich huschte hinter den Fahr stuhlschacht in Deckung. Ich hörte das Reißen des Siegels. Jemand verließ die Wohnung, ging aber nicht zum Lift. Er huschte die Treppe hinab, ziemlich rasch und auf leisen Sohlen. Offenbar trug der Bursche bequeme Sportschuhe.
Ich folgte ihm, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Ich kam gerade noch zurecht, um ihn in der Halle aus der Haustür schlüpfen zu sehen. Er trug einen dunkelblauen flatternden Nylonmantel, dessen Kragen er hochgestellt hatte. Auf seinem Kopf saß ein verknautschter Sporthut mit Higginskaros. Der Mann war mittelgroß und untersetzt. Er hastete mit hochgezogenen Schultern davon und sah aus wie die Verkörperung des schlechten Gewissens.
Ein Amateur, dachte ich. Ein Mann, der sich tarnen will, es aber ungeschickt macht und so das glatte Gegenteil erreicht. Wer geht schon in einer schwülen, sternenklaren Julinacht mit einem Nylonmantel aus dem Haus!
Ich erreichte ihn mit wenigen Schritten. »Hallo«, sagte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ich spürte, wie der Mann zusammenzuckte. Er blieb mit einem Ruck stehen und wandte sich mir zu. Ich war ehrlich überrascht, als ich ihn erkannte.
»So spät noch unterwegs, Mr. Parker?« fragte ich ihn.
***
Er versuchte zu lächeln. Die hilflose Grimasse ließ sein rundes Gesicht in unglückliche Falten zerfließen. »Oh, Mr. Cotton!« stieß er hervor. »Wie geht es Ihnen?«
»Einfach brillant«, antwortete ich. »So ist es immer, wenn ich eine neue Fährte entdecke. Sie haben mir eine Menge zu erzählen, nicht wahr?«
Seine dicken Lippen begannen zu beben, als er um eine passende Antwort rang. Er war nicht dumm, aber ängstlich. Ihm war sofort klar, daß ich ihn beim Verlassen der Wohnung beobachtet hatte. »Bitte…lassen Sie es uns vergessen«, flehte er.
»Was vergessen?«
»Meinen Besuch in Myrnas Wohnung.«
»Sorry, Mr. Parker«, sagte ich ernst. »Ich war dabei, als Myrna Collins starb. So etwas vergißt man nicht.«
»Mit ihrem Tod habe ich nichts zu schaffen!« sprudelte er erregt hervor.
»Schon möglich. Beweisen Sie es! Warum sind Sie in Myrnas Wohnung eingedrungen?«
Seine massigen Schultern sackten resignierend nach unten. »Wegen der Fotos«, sagte er. »Sie zeigen Myrna und mich in der Taburin-Bar. Sie kennen ja das Lokal. Es hat nicht gerade den besten Ruf — und ich war, wie man auf den Fotos sieht, an dem Abend ziemlich aufgekratzt. Beschwipst, um genau zu sein.«
Ich streckte die Hand aus. »Geben Sie mir die Bilder bitte.«
Er holte ein dünnes Päckchen aus der Tasche. »Es sind ziemlich alberne Fotos«, entschuldigte er sich. Ich nahm ihm das Päckchen ab und öffnete es, um einen Blick hineinzuwerfen.
»Ich wollte vermeiden, daß sie gefunden und veröffentlicht werden«, fuhr er mit weinerlich anmutender Stimme fort. »Sie wissen doch, wie das nach einem Mord ist. Die Presse stürzt sich auf das Privatleben des Opfers und
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