Jerry Cotton - 2905 - Ein Steckbrief fur den Tod
schon sein Urteil über die Lady gebildet. Ich hielt ihr den Fahndungsaufruf nach Roy Jordan unter die Nase, den unsere Kollegen in der Tasche des Ermordeten sichergestellt hatten.
»Ist das Ihr Freund Mike?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
»Nein, außerdem heißt dieser Typ doch Roy Jordan. Jedenfalls steht das da.«
»Wollen Sie uns auf den Arm nehmen?«, rief Phil genervt. »Mehrere Nachbarn haben ausgesagt, dass exakt dieser Mann seit einiger Zeit bei Ihnen lebt. Sind das vielleicht alles Lügner?«
Isabel Ortega war jetzt schon kleinlauter, als sie wieder den Mund öffnete. Sie kapierte allmählich, dass sie mit dem FBI keine Spielchen spielen durfte.
»Kann ich das Foto bitte noch einmal sehen?«
Ich zeigte ihr das Blatt Papier abermals. Das Gesicht der jungen Frau war so leer und ausdruckslos, dass ich aus ihrem Mienenspiel unmöglich schlau werden konnte. Dennoch war ich die ganze Zeit sicher, dass sie den Mann sehr wohl kannte.
»Ja, eine gewisse Ähnlichkeit ist schon da. Das Foto muss aber älter sein, oder?«
»Roy Jordan alias Mike war auf der Flucht vor dem Gesetz. Er befand sich nur gegen Kaution auf freiem Fuß und hat sich nicht ordnungsgemäß bei Gericht gemeldet. Daher wurde er von einem Kautionsjäger verfolgt. Von dem Mann, der auf der Treppe vor Ihrem Apartment niedergeschossen wurde.«
»Ich habe die Schüsse natürlich gehört, aber ich bin nicht nachsehen gegangen. Ich hatte Angst, dass ich mir selbst ein Stück Blei einfangen könnte.«
»Und was ist mit Ihrem Mike?«, fragte ich. »Ist der auch in der Wohnung geblieben?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
»Als geschossen wurde, war Mike schon auf dem Weg zum Supermarkt.«
»Hatten Sie gar keine Angst, dass die Schüsse Ihrem Freund gelten könnten? Machten Sie sich keine Sorgen um ihn?«
Isabel Ortega antwortete nicht, sondern nagte nervös an ihrer Unterlippe. Von der Story mit dem Supermarktbesuch glaubte ich ihr kein Wort. Phil auch nicht, wie mir ein Blick in sein grimmiges Gesicht bewies.
Ob die Gespielin des Flüchtigen gar nicht merkte, wie unglaubwürdig ihre Zeugenaussage auf uns wirken musste? Vielleicht war sie wirklich einfach nur naiv, wie Amy Stewart bereits vermutet hatte. Die junge NYPD-Detektivin konnte sich offenbar auf ihre Menschenkenntnis verlassen.
Ich schaute auf die Uhr.
»Wenn Mike schon vor den Schüssen zum Einkaufen gegangen ist, dann braucht er aber viel Zeit.«
»Wo befindet sich denn der Supermarkt? In Queens? Und geht Mike zu Fuß dorthin?«, höhnte Phil.
»Nein, der Supermarkt ist an der nächsten Ecke«, erwiderte Isabel Ortega. Sie hatte die Ironie offenbar nicht verstanden. »Ich weiß auch nicht, wo Mike so lange bleibt. Allmählich mache ich mir auch Sorgen. Vielleicht hat er ja jemanden getroffen. Oder es macht ihn nervös, dass hier so viele Patrolcars vor dem Haus stehen. Ich habe keine Ahnung, wo er ist. Das müssen Sie mir glauben.«
Ich versuchte es mit etwas anderem.
»Womit verdient denn Ihr Freund eigentlich seinen Lebensunterhalt?«
»Das weiß ich auch nicht so genau. Mike hat jedenfalls immer Geld.«
»Was ist mit seinen Freunden, Miss Ortega? Mit wem hat er sich regelmäßig getroffen? Gab es bestimmte Orte, wo er sich gerne herumtrieb?«
»Von Freunden weiß ich nichts, Agent Cotton. Ehrlich nicht. Und eigentlich war er immer nur hier bei mir. Natürlich weiß ich nicht, was er getan hat, wenn ich bei meinem Job war. Mike hatte jedenfalls einen eigenen Wohnungsschlüssel. Aber immer wenn ich zurückkehrte, hat er im Apartment auf mich gewartet. Ich glaube, er ist nicht oft vor die Tür gegangen.«
»Schön, aber irgendwo müssen Sie ihn doch auch kennengelernt haben.«
»Ja, das stimmt. Mike hat mich in der U-Bahn angesprochen. Er sagte, ich sei die schönste Frau, die er jemals gesehen hat. Bei uns hat es sofort gefunkt. Es war Liebe auf den ersten Blick, so etwas habe ich nie zuvor erlebt. Noch am gleichen Abend habe ich ihn mit zu mir nach Hause genommen. Mike ist der süßeste Mann, den ich kenne.«
Ich schaute Isabel Ortega nachdenklich an. Wollte sie uns einen Bären aufbinden? Nein, dafür war sie nicht smart genug. Wenn es überhaupt eine Frau in New York City gab, die einen wildfremden Kerl gleich beim ersten Treffen mit zu sich in ihr Apartment nahm, dann stand diese Frau mir genau jetzt gegenüber.
Isabel Ortega konnte noch von Glück sagen, dass sie nicht an einen Sexualverbrecher geraten war, sondern an einen flüchtigen Ganoven, der
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