Jerry Cotton - 2907 - Blei ist keine Waehrung
mich aus tiefliegenden müden Augen an. Dann begann er in einem Stapel Mappen zu suchen und zog schließlich einen dünnen Hefter hervor.
»Da hab ich’s. Unbekannter Toter … Hat sich an einem Ponton am Westufer des East River verfangen, zwischen Williamsburgh und Brooklyn Bridge. Kennen Sie die Stelle?«
»Dort, wo die Basketballhalle steht?«
»Ungefähr dort. Die Kollegen von der Flusspolizei meinen, dass er etwa bei Green Point ins Wasser geworfen wurde, vielleicht auch weiter oben in den Newtown Creek. Jedenfalls scheint man sich keine besondere Mühe gegeben zu haben, den Mann zu versenken.«
»Was haben Sie bisher unternommen?«, fragte ich.
Roscoe bedachte mich mit einem Blick seiner müden Augen.
»Wir ermitteln in einem Fall von Körperverletzung mit Todesfolge. Raubüberfall. Ein junger Tourist, der nicht gleich mit Handy und Geldbörse rausrücken wollte …« Jetzt klang auch seine Stimme müde.
Nichts, was Vorrang hätte, hieß das.
»Dagegen spricht, dass die Freunde dieses Jungen sich nicht melden.«
»Erst muss der Tote identifiziert werden.«
»Wenden Sie sich an die Campuspolizei der Minnesota State University. Fragen Sie dort nach William Jordan und seinen Freunden. Der Vorname des Toten lautet Teddy, wahrscheinlich von Theodore.«
Roscoe warf mir einen schrägen Blick zu, während er in der Akte blätterte.
»Machen wir, Jerry. Alles der Reihe nach. Das Ergebnis der Autopsie kennen Sie? Ein Wunder, dass der Bericht schon vorliegt. Der Coroner hatte wohl nicht viel zu tun.« Roscoe legte den Kopf schräg und grinste dünn. »Wenn man sie antreibt, mauern sie. Zumindest hat man manchmal den Eindruck. Nun ja. Und der Bericht von der Kriminaltechnik ist auch schon da, sieh an.« Der Lieutenant stutzte. »Das ist vielleicht interessant.« Er begann zu zitieren. »Das Projektil ist nur geringfügig verformt … Es konnte deshalb einer bestimmten Waffe zugeordnet werden … Und …« Ein leichtes Grinsen überzog Roscoes Gesicht. »Es sieht so aus, als ob Sie den Fall gleich übernehmen können.«
Roscoes Grinsen wurde noch breiter, als er meinen verständnislosen Blick bemerkte.
»Die Kugel«, erklärte er, »stammt aus der Waffe, mit der Tony Peranio erschossen wurde.«
»Sagten Sie Peranio?«
»Genau. Tony Peranio. Joseph Lombardis Schwager.«
***
Joseph Lombardis Gesicht war rot angelaufen. Er schob sich zwei Pillen in den Mund und würgte sie trocken hinunter. Luis Vaccaro und Ronny Hart, der hinter seinem Rücken »Chicken« genannt wurde, weil sein kicherndes Lachen an ein gackerndes Huhn erinnerte, wechselten stumme Blicke. Der Boss hatte es mit dem Blutdruck. Zumindest bildete er es sich ein.
»Da marschiert einer hier rein und schaut zu, wie …«
»Wir haben ihn doch gekriegt«, sagte Vaccaro.
Vaccaro behielt selbst dann die Ruhe, wenn Lombardi kurz vor einer Explosion stand. Und dann manchmal völlig ausrastete und es fertigbrachte, jemandem den Arm zu brechen. Oder den Kiefer. Oder was gerade in die Reichweite seiner Fäuste geriet.
Lombardi brüllte jetzt. »Aber er kratzt ab, und ihr denkt, alles ist okay?«
»Das konnte ich doch nicht wissen«, sagte Ronny Hart. Chicken war ein Killer. Einer von der gefühllosen Sorte. »Luis war dabei. Ich hab dem Kerl doch nur ins Knie geschossen, damit er das Maul aufmachte …«
»Das hat ja auch großartig geklappt«, höhnte Lombardi. »Warum habt ihr es nicht Don überlassen, den Kerl zum Reden zu bringen?«
»Das war ein junger Bursche, mit dem wären wir selbst fertig geworden«, sagte Vaccaro geduldig. »Dafür brauchten wir den Bullen nicht. Das war einfach Pech.«
Lombardi stapfte mit hochgezogenen Schultern durch den Raum, blieb kurz an einem der Fenster stehen und blickte über die flachen Dächer der lang gestreckten Hallen hinweg. Weißer Dampf quoll aus den Abluftschächten.
Er war erst vor zwei Stunden aus Miami zurückgekommen. Die Tage dort unten hatten gereicht, um die Sonnenbräune seines Gesichts aufzufrischen. Er hatte Geschäftsfreunde getroffen und ein paar entspannende Tage mit zwei kubanischen Prostituierten drangehängt. Und jetzt das … Die Bräune war fast wieder futsch, die Erholung auch, und die gute Laune sowieso. Er wusste jetzt auch, warum seine beiden Gorillas, die ihn am Flughafen abgeholt hatten, so schweigsam gewesen waren. Sie hatten sich nicht getraut, dem Boss was zu sagen.
Lombardi wandte sich wieder um und fixierte Vaccaro. Der Mann war seine rechte Hand und sein
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