Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
»und auch nicht für schöngeistig.«
In den Straßen von Jerusalem blitzten die Goldbeschläge und Schulterstücke der russischen Uniformen, und es wimmelte von ländlichen Pilgern in Schaffellwesten und einfachen Kitteln. Sie alle waren dem Aufruf von Nikolaus gefolgt, der auch eine kirchliche Gesandtschaft nach Jerusalem geschickt hatte, um mit den anderen europäischen Staaten mithalten zu können. »Die Russen«, so schrieb der britische Konsul warnend nach London, »könnten in einer einzigen Osternacht 10 000 Pilger innerhalb der Mauern von Jerusalem bewaffnen« und die Stadt erobern. Die Franzosen verfolgten unterdessen ihre eigenen Strategien zum Schutz der Katholiken. »Jerusalem«, wusste Konsul Finn 1844 zu berichten, »steht jetzt im Mittelpunkt des französischen und russischen Interesses.«
Gogol: das Jerusalem-Syndrom
Nicht alle russischen Pilger waren Soldaten oder Bauern, und nicht alle fanden die Erlösung, die sie suchten. Am 23. Februar 1848 kam ein Pilger aus Russland nach Jerusalem, der einerseits typisch war in seiner religiösen Schwärmerei, andererseits aber als wirres Genie vollkommen aus dem Rahmen fiel. Der Schriftsteller Nikolai Gogol, der mit seinem Theaterstück Der Revisor und seinem Roman Die toten Seelen Erfolge gefeiert hatte, war auf der Suche nach seelischer Erleichterung und göttlicher Inspiration, als er auf einem Esel in die Stadt einzog. Die toten Seelen sollten ursprünglich eine Trilogie werden, aber Gogol tat sich schwer damit, den zweiten und den dritten Teil zu schreiben, und er vermutete in seiner Schreibblockade eine Strafe Gottes für sein sündiges Leben. Als Russe gab es für ihn nur einen Ort, an dem er Erlösung finden konnte: »Solange ich nicht in Jerusalem war«, schrieb er, »werde ich außerstande sein, zu irgendjemandem etwas Beruhigendes zu sagen.«
Der Aufenthalt in Jerusalem war eine Katastrophe: Er brachte eine Nacht betend am Heiligen Grab zu, fand es aber schmutzig und abgeschmackt. »Bevor ich richtig zur Besinnung kam, war es vorbei.« Der billige Pomp der heiligen Stätten lag ihm auf der Seele: »Nie war ich im Herzen so unzufrieden wie in Jerusalem und in der Zeit danach.« Nach seiner Rückkehr weigerte er sich, über seine Reise zu reden, und geriet stattdessen unter den Einfluss eines Mystikers und Priesters, der ihn davon überzeugte, dass seine Werke verderbt seien. In einem wahnhaften Anfall verbrannte Gogol seine Manuskripte und hungerte sich anschließend zu Tode – oder doch zumindest in ein Koma, denn als sein Sarg im 20. Jahrhundert geöffnet wurde, lag er mit dem Gesicht nach unten darin.
Der wahnhafte Zustand, der manche Jerusalem-Reisende befällt, wurde damals als Jerusalem-Fieber bezeichnet und heißt seit den 1930er Jahren Jerusalem-Syndrom, »eine psychotische Störung, begleitet von religiösen Erregungszuständen und ausgelöst durch die Nähe der heiligen Stätten von Jerusalem«. Im British Journal of Psychiatry wurde der durch eine enttäuschte Erwartungshaltung ausgelöste Wahn 2000 so definiert: »Jerusalem-Syndrom vom Untertyp zwei betrifft diejenigen, die mit übersteigerten mystischen Vorstellungen von der heilenden Kraft Jerusalems in die Stadt kommen – wie beispielsweise der Schriftsteller Gogol.«
Nikolaus I. litt unter seiner eigenen Variante des Jerusalem-Syndroms. In seiner Familie hatte es Fälle von Wahnsinn gegeben: »Mit fortschreitenden Jahren«, schrieb der französische Botschafter in Sankt Petersburg, »sind es nun die Eigenschaften Pauls I., die immer mehr in den Vordergrund treten.« Dieser hatte zunehmend an Wahnsinn gelitten und war, wie Nikolaus’ Großvater Peter III., einem Attentat zum Opfer gefallen. Nikolaus war zwar alles andere als wahnsinnig, entwickelte aber ähnlich fixe Ideen und selbstherrliche Züge wie sein Vater. Er plante, 1848 eine Pilgerfahrt nach Jerusalem zu unternehmen, musste aber auf das Vorhaben verzichten, als überall in Europa die Revolution ausbrach. Es gelang ihm, den ungarischen Aufstand gegen die österreichischen Habsburger niederzuschlagen. Nikolaus gefiel sich in der Rolle eines Gendarmen für Europa, aber, so schrieb der französische Botschafter, »er wurde verdorben durch Schmeichelei und Erfolge sowie durch die religiösen und politischen Vorurteile der Moskowitischen Nation«. [149]
Am 31. Oktober 1847 wurde der silberne Stern, den man im 17. Jahrhundert in der Geburtskirche zu Bethlehem in den Marmurfußboden der Geburtsgrotte eingelassen hatte,
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