Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
herausgeschnitten und gestohlen. Der Stern war ein Geschenk Frankreichs gewesen, und gestohlen hatten ihn offensichtlich die Griechisch-Orthodoxen. Unter den Mönchen in Bethlehem brach ein erbitterter Streit aus. Die Franzosen pochten in Istanbul auf ihr Recht, den Stern zu ersetzen und das Dach der Grabeskirche in Jerusalem auszubessern; die Russen machten ihnen dieses Recht streitig; beide beriefen sich auf bestehende Verträge aus dem 18. Jahrhundert. Der Streit schwelte, bis daraus ein Duell zwischen zwei Kaisern wurde.
Im Dezember 1851 führte der französische Präsident Louis-Napoleon Bonaparte, ein persönlich undurchschaubarer und nichtssagender, politisch aber außerordentlich umtriebiger Mensch, einen Staatsstreich durch und bereitete seine Inthronisierung als Kaiser Napoleon III. vor. Der Schürzenjäger und Glücksritter, dessen scharf gezwirbelter und gewichster Schnurrbart nicht über seinen zu großen Kopf und seinen zu schmächtigen Oberkörper hinwegtäuschen konnte, war in mancher Hinsicht der erste moderne Politiker, und ihm war klar, dass er seine angemaßte und gefährdete Herrschaft durch religiöse Profilierung und außenpolitische Erfolge festigen musste. Nikolaus wiederum sah in der Auseinandersetzung eine Gelegenheit, seine Regentschaft zu krönen, indem er die heiligen Stätten für den »Russischen Gott« sicherte. Für diese beiden sehr unterschiedlichen Kaiser war Jerusalem der Schlüssel zum himmlischen wie auch zum irdischen Ruhm.
James Finn und der Krimkrieg: Ermordete Evangelikale und marodierende Beduinen
Zwischen Franzosen und Russen in die Enge getrieben, versuchte der Sultan den Streit mit einem Erlass vom 8. Februar 1852 beizulegen. Darin machte er zwar ein paar Zugeständnisse an die Katholiken, sicherte aber den Orthodoxen die Vorrangstellung in der Kirche zu. Doch die Franzosen kämpften nicht weniger hartnäckig um ihre Rechte als die Russen. Sie führten ihre Ansprüche auf Napoleons Invasion, auf das Bündnis mit Süleyman dem Prächtigen, auf die französischen Kreuzfahrerkönige von Jerusalem und auf Karl den Großen zurück. Es war kein Zufall, dass Napoleon III. zur Bekräftigung seiner Forderung an den Sultan ein Kanonenboot namens Charlemagne entsandte. Im November gab der Sultan klein bei und übertrug das Bestimmungsrecht über die Kirche nunmehr den Katholiken. Nikolaus tobte vor Wut. Er forderte die Wiederherstellung der Rechte der orthodoxen Kirche in Jerusalem und schlug dem Sultan ein »Bündnis« vor, das aus dem Osmanischen Reich praktisch ein russisches Protektorat gemacht hätte.
Als Nikolaus’ unverschämte Forderungen zurückgewiesen wurden, fiel er in den osmanischen Donaugebieten, dem heutigen Rumänien, ein und marschierte von dort aus Richtung Istanbul. Nikolaus redete sich ein, er habe die Zustimmung der Briten erschmeichelt, indem er ableugnete, sich Istanbul oder gar Jerusalem einverleiben zu wollen. Aber er hatte die Regierungen in London wie auch in Paris unterschätzt. Angesichts des russischen Vormarschs und des möglichen Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches drohten Großbritannien und Frankreich mit Krieg. Starrsinnig forderte Nikolaus sie auf, Farbe zu bekennen, da er selbst »nur aus christlichen Beweggründen und unter dem Banner des Heiligen Kreuzes« Krieg führe. Am 28. März 1853 erklärten die Briten und die Franzosen Russland den Krieg. Obwohl er vor allem an Schauplätzen auf der Krim ausgetragen wurde, rückte dieser Krieg Jerusalem in den Mittelpunkt der Weltbühne, ein Platz, den die Stadt bis heute innehat. [197]
Als die Soldaten die Jerusalemer Garnison verließen, um gegen die Russen in den Krieg zu ziehen, sah James Finn zu, wie sie auf dem Maidan, dem vor dem Jaffator gelegenen Paradeplatz der Stadt, die Gewehre präsentierten. »Sie marschierten mit aufgepflanzten Bajonetten, die in der syrischen Sonne funkelten«, bemerkte Finn und beklagte, dass der »Kern des Ganzen bei uns in den heiligen Stätten« liege und Nikolaus »immer noch nach dem Besitz der Heiligtümer Jerusalems« strebe.
Statt der gottergebenen Russen, die bisher das Bild der Jerusalem-Pilger geprägt hatten, strömte nun eine neue Sorte oft kritischer Besucher aus dem Westen in die Stadt – 1856 waren es bereits 10 000 im Jahr –, um sich die heiligen Stätten anzusehen, die Anlass für einen europaweiten Krieg gewesen waren. Allerdings war eine Reise nach Jerusalem immer noch ein Abenteuer. Es gab keine Kutschen, nur geschlossene Sänften,
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