Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Sie trat ihre Reise 1837 an, nachdem sie zuvor jahrelang versucht hatte, die Sioux und Cheyenne davon zu überzeugen, dass sie die Verlorenen Stämme Israels seien und sie nach Zion begleiten müssten. Sie mietete Zimmer auf dem Berg Zion, um die Schar ihrer Anhänger, die sich die Fremden Pilger nannten, auf den Weltuntergang vorzubereiten, den sie für 1847 erwartete – der aber doch ausblieb. Am Ende zog sie als Bettlerin durch die Straßen Jerusalems. Zuvor hatte Joseph Smith, Prophet der Kirche der Heiligen der Letzten Tage und Religionsstifter der Mormonen, seinen Apostel mit dem Auftrag nach Jerusalem geschickt, in Vorbereitung auf »die Wiederherstellung Israels und seiner Hauptstadt Jerusalem« auf dem Ölberg einen Altar zu errichten.
Zu der Zeit, als Cresson nach Jerusalem kam, wurde die Stadt von einer wachsenden Zahl amerikanischer Evangelikaler heimgesucht, die hier auf das Ende aller Tage warten wollten. Die US-Regierung entließ Cresson aus seinem Amt, kaum dass er es angetreten hatte, doch er gab noch jahrelang unbeirrt Schutzbriefe an Juden aus und trat schließlich, nachdem er seinen Namen in Michael Boaz Israel geändert hatte, zum jüdischen Glauben über. Für seine seit Jahren vernachlässigte Frau war dies eine Offenbarung zu viel. Sie strengte ein Verfahren an, um ihn für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, und führte als Begründung einiges ins Feld: seine Gewohnheit, mit Pistolen herumzufuchteln, seine Straßenpredigten, seine Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, seinen religiösen Wankelmut, seine Pläne, den Jerusalemer Tempel wiederaufzubauen, und sein abnormales Sexualverhalten. Er reiste aus Jerusalem zur Verhandlung über seine Zurechnungsfähigkeit an, die gewaltiges Aufsehen erregte, weil Cressons Frau mit ihrer Klage den Kern des Jeffersonschen Freiheitsgedankens selbst in Frage stellte – das verfassungsmäßig verbriefte Recht jedes Bürgers der Vereinigten Staaten, zu glauben, was immer er wollte.
In dem Verfahren wurde Cressons Unzurechnungsfähigkeit festgestellt, aber er ging in Berufung. In zweiter Instanz verlor seine Frau. Damit war die amerikanische Freiheit der Religionsausübung bestätigt, und Cresson konnte nach Jerusalem zurückkehren. Er baute vor den Toren der Stadt einen landwirtschaftlichen Modellbetrieb auf, studierte die Thora, ließ sich von seiner amerikanischen Frau scheiden und heiratete eine Jüdin und schrieb nebenbei noch ein weiteres Buch, The Key of David . Die jüdischen Bewohner Jerusalems verehrten ihn als »Heiligen Fremden aus Amerika«. Als er starb, wurde er auf dem jüdischen Friedhof auf dem Ölberg beigesetzt.
Inzwischen strömten so viele amerikanische Apokalyptiker nach Jerusalem, dass man von einer Massenhysterie sprechen konnte, die in einem Artikel des American Journal of Insanity mit dem kalifornischen Goldrausch verglichen wurde. Bei seinem Besuch in Jerusalem fühlte sich Herman Melville fasziniert, aber auch abgestoßen von der »Seuche« der amerikanischen Offenbarungsbewegungen – »diese absurde, halb schwermütige, halb possenhafte Judenmanie«, wie er es nannte. »Was soll ich tun, wenn jeder verrückte oder seelisch drangsalierte Bürger der Vereinigten Staaten ins Land kommt?«, erkundigte sich der US-Konsul in Beirut bei seinem Außenminister. »Neuerdings kommen einige merkwürdige Leute nach Jerusalem, die behaupten, die Wiederkehr Unseres Erlösers stehe noch in diesem Jahr bevor.« Melville war klar, dass derartig gewaltige und welterschütternde Erwartungen niemals befriedigt werden konnten. »Kein Land wird romantische Erwartungen rascher zerstreuen als Palästina – ganz besonders Jerusalem. Für einige ist die Enttäuschung herzzerreißend.« [148]
Der europäische Gendarm und die Schiesserei am Grab: Der russische Gott in Jerusalem
Am Karfreitag, dem 10. April 1846, wies der osmanische Gouverneur seine Truppen an, ein wachsames Auge auf die Grabeskirche zu haben. In diesem Jahr fielen, was alle paar Jahre vorkommt, das orthodoxe und das katholische Osterfest auf den gleichen Tag. Die Mönche bereiteten nicht nur ihre Weihrauchschwenker vor, sondern schmuggelten auch Pistolen und Dolche in die Kirche und deponierten sie heimlich hinter Säulen und unter Messgewändern. Wer würde seine Heilige Messe zuerst feiern? Die Griechen gewannen das Wettrennen und breiteten als Erste ihr Altartuch auf dem Golgatha-Altar aus. Die Katholiken waren ihnen dicht auf den Fersen – aber doch zu spät. Sie stellten die
Weitere Kostenlose Bücher