Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Griechen zur Rede: Hatten sie überhaupt die Erlaubnis des Sultans? Die Griechen wehrten sich: Wo war denn der Erlass des Sultans, der die Katholiken berechtigte, ihre Messe zuerst zu feiern? Es war eine Pattsituation. Unter den Messgewändern lagen die Finger an den Abzugshähnen. Unversehens gingen beide Seiten mit allem, was an kirchlichen Utensilien greifbar war, aufeinander los: Sie schlugen mit Kruzifixen, Kerzenständern und Lampen aufeinander ein, bis kalter Stahl aufblitze und die ersten Schüsse fielen. Als osmanische Soldaten in die Kirche drängten, um dem Kampf ein Ende zu bereiten, lagen bereits 40 Gläubige tot vor dem Heiligen Grab.
Der Vorfall erhitzte die Gemüter in aller Welt, vor allem aber in St. Petersburg und in Paris. Im offensiven Selbstbewusstsein der klerikalen Zänker spiegelten sich nicht nur die Religionen selbst wider, sondern auch die Staaten, die dahinterstanden. Neue Eisenbahn- und Schiffsverbindungen sorgten dafür, dass Jerusalem von allen Teilen Europas aus leichter zu erreichen war, aber besonders bequem gelangte man von Odessa nach Jaffa. Ein französischer Mönch beklagte sich, dass in einem durchschnittlichen Jahr nur vier von 4000 Pilgern Katholiken, der Rest aber Russisch-Orthodoxe seien. Die orthodoxe Mission eines heiligen Russland war in der russischen Gesellschaft von der untersten bis zur herrschenden Schicht, vom struppigen Bauern im entlegensten sibirischen Dorf bis zum Kaiser Nikolaus I. persönlich, tief verwurzelt.
Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 hatten die Fürsten von Moskowien sich selbst als rechtmäßige Erben der letzten byzantinischen Kaiser und Moskau als Drittes Rom betrachtet. Sie übernahmen den byzantinischen Doppeladler in ihrem Wappen und gaben sich einen neuen Titel, Caesar oder Zar. Ihre Kriege gegen die islamischen Krim-Herrscher und die osmanischen Sultane sahen sie als heilige Kreuzzüge der Orthodoxie an, die in Russland ganz eigene Züge entwickelt hatte. Verbreitet wurde sie in diesem riesigen Land von den Zaren und von Eremiten, die eine gleichermaßen große Verehrung für Jerusalem hegten. Angeblich waren die charakteristischen Zwiebeltürme russischer Kirchen dem Jerusalem nachempfunden, wie man es in Russland von Gemälden kannte. Russland hatte sogar sein eigenes Miniaturjerusalem, [196] aber eine Pilgerreise in die Heilige Stadt war für jeden Russen ein unverzichtbarer Teil seiner Vorbereitung auf Tod und Erlösung.
Nikolaus I. hatte diese Überzeugung verinnerlicht – in dieser Hinsicht trat er ganz in die Fußstapfen von Katharina der Großen und Peter dem Großen, die sich beide als Bewahrer der Orthodoxie und der heiligen Stätten verstanden hatten, und die ländliche Bevölkerung Russlands schuf ihre eigene Verbindung: Als Nikolaus’ älterer Bruder 1825 überraschend starb, glaubten die Leute, er sei als einfacher Eremit nach Jerusalem gegangen.
Nikolaus, ein strenger Konservativer, entschiedener Antisemit und künstlerischer Banause (er hatte sich persönlich zu Puschkins Zensor aufgeschwungen), war in seinen Augen nur dem verantwortlich, was er als den »Russischen Gott« im Sinne des »Uns von Gott anvertrauten Russland« bezeichnete. Er, der stolz darauf war, auf einem Feldbett zu schlafen, regierte sein Land wie ein eiserner Zuchtmeister. Früher hatte der schnittige junge Mann mit den blauen Augen die Damen der britischen Gesellschaft betört; eine von ihnen hatte ihn gar als »schönsten Mann in ganz Europa« beschrieben. Doch nun, in den 1840er Jahren, war sein Haar schütter geworden, und über dem Gürtel seiner immer noch hautengen Uniformhose wölbte sich ein ansehnlicher Bauch. Nach dreißig Jahren Ehe mit einer kränkelnden Frau hatte er sich schließlich eine junge Hofdame als Geliebte genommen – und fürchtete sich bei aller Macht des russischen Reiches vor nichts mehr als vor – physischer wie politischer – Impotenz.
Jahrelang hatte Nikolaus seinen persönlichen Charme spielen lassen, um zu erreichen, dass die Briten einer Teilung des Osmanischen Reichs, das er als »kranken Mann« bezeichnete, zustimmten. Er hoffte auf diese Weise, die orthodoxen Provinzen auf dem Balkan befreien und die Regierung in Jerusalem übernehmen zu können. Aber die Briten ließen sich von seinem Charme nicht mehr beeindrucken. Nach 20 Jahren autokratischer Herrschaft war er abgestumpft und unduldsam: »Für sehr klug halte ich ihn nicht«, bemerkte die scharfsinnige Königin Victoria,
Weitere Kostenlose Bücher