Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Sichtschutz auf, damit Männer und Frauen entsprechend den jüdischen Vorschriften getrennt beten konnten. In den Vorjahren war es gestattet worden, die Trennwand und Stühle für die älteren Gläubigen aufzustellen, aber diesmal warf der Mufti den Juden vor, gegen den Status quo zu verstoßen.
Muslime halten die Mauer für den Ort, an dem Mohammed nach seiner Nachtreise Buraq, sein Pferd mit dem menschlichen Antlitz, angebunden hat, aber im 19. Jahrhundert hatten die Osmanen den angrenzenden Tunnel als Eselstall genutzt. Dem Gesetz nach gehörte die Mauer der Abu-Madyan-Stiftung, deren Gründung auf Saladins Sohn Afdal zurückging. Sie war demnach »rein muslimisches Eigentum«. Die Muslime fürchteten jedoch, dass bald der Dritte Tempel auf dem islamischen Haram, dem jüdischen Har-haBayit, stehen würde, wenn sie den Juden freien Zugang zur Klagemauer gewährten. Doch die Mauer war die heiligste Stätte des Judentums, und die palästinensischen Juden hielten die Zugangsbeschränkung durch die Briten, die den zum Beten geöffneten Platz auf ein viel zu kleines Fleckchen reduzierten, für ein Überbleibsel jahrhundertelanger muslimischer Unterdrückung, und das erklärte, warum es den Zionismus geben musste. Die britische Mandatsregierung hatte sogar verboten, an den hohen jüdischen Feiertagen den Schofar – das Widderhorn – zu blasen.
Am nächsten Tag wies Storrs’ Nachfolger im Amt des Gouverneurs, Edward Keith-Roach, der sich als Pascha von Jerusalem zu bezeichnen pflegte, die Polizei an, den Tempelberg während der Gebete zu Yom Kippur, dem höchsten aller jüdischen Feste, zu stürmen. Die Polizisten schlugen auf betende Männer ein und zogen Stühle unter alten Frauen weg. Es war kein ruhmreicher Tag für die Briten. Der Mufti frohlockte, unterstellte den Juden aber gleichzeitig die Absicht, »nach und nach die al-Aqsa-Moschee in Besitz nehmen zu wollen«. Darum rief er zu einer Kampagne gegen die an der Klagemauer betenden Juden auf, die nun mit Steinen beworfen, verprügelt und mit laut dröhnender Musik beschallt wurden. Jabotinskys Betar-Jugend demonstrierte für freien Zugang zur Mauer.
Beide Seiten rüttelten am osmanischen Status quo, der längst nicht mehr die Wirklichkeit widerspiegelte. Die Araber waren alarmiert angesichts eines unaufhörlichen Zustroms von Juden und des Aufkaufs großer Landflächen durch die Zionisten. Seit der Deklaration waren über 90 000 jüdische Einwanderer ins Land gekommen. Allein im Jahr 1925 hatten die Zionisten den Notabelnfamilien fast 20 000 Hektar Land abgekauft. Eine kleine Minderheit von religiös-nationalistischen Juden träumte vielleicht von der Errichtung des Dritten Tempels, aber die meisten wollten einfach nur in Ruhe an ihrer heiligen Stätte beten. Der neue Hochkommissar John Chancellor, von dem gesagt wurde, er sehe aus wie ein schmucker Schauspieler aus Shakespeares Zeiten, bat den Mufti, die Mauer zu verkaufen, damit die Juden dort einen Hof bauen konnten. Der Mufti lehnte das Ansinnen ab. Für die Juden war die Klagemauer das Symbol ihrer Freiheit, in ihrer eigenen Heimat zu beten und zu leben, für die Araber wurde der Buraq zum Symbol des Widerstands und der nationalen Identität.
Eine klaustrophobische, bedrohliche Stimmung lag über der Stadt. »Es ist die stolze und einsame Schönheit einer ummauerten Bergfeste in der Wüste, einer Tragödie ohne Katharsis«, bemerkte Arthur Koestler, ein junger ungarischer Zionist, der in Jerusalem lebte und für Jabotinskys Zeitung schrieb. Er war erfüllt von der »Jerusalem-Tristesse«. Koestler träumte von der Flucht ins kitschig-bunte Tel Aviv, denn in Jerusalem spürte er, wie »das zornige Gesicht Jahwes finster auf die heißen Felsen« blickte«.
Im Sommer 1929 ließ der Mufti eine Bresche als Durchgang für Menschen und Esel in die Mauer schlagen, die Rufe des Muezzin und die Gesänge der Sufis dröhnten den Betenden aus Lautsprechern in die Ohren. In den Straßen der Umgebung wurden Juden überfallen. In ganz Palästina demonstrierten Juden unter dem Motto: »Die Mauer gehört uns.« Chancellor weilte nicht im Land, als ein 300 Mann starker Protestzug, angeführt von dem Historiker Joseph Klausner (einem Großonkel von Amos Oz), am 15. August unter dem Schutz britischer Polizisten schweigend zur Klagemauer marschierte, wo die Demonstranten ihre Flagge aufzogen und zionistische Lieder sangen. Am darauffolgenden Tag strömten nach den Freitagsgebeten 2000 Araber von der al-Aqsa-Moschee
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