Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Tel Aviv war. Aber das nationalistisch-erlösungsorientierte Programm galt als vordringliche Aufgabe Gottes, und dieser göttliche Imperativ sollte bald das Erscheinungsbild und das Leben Jerusalems verändern.
Davon waren nicht nur Juden betroffen: Die erheblich zahlreicheren und mächtigeren evangelikalen Christen, vor allem in Amerika, erlebten ebenfalls diesen Moment nahezu apokalyptischer Ekstase. Evangelikale waren überzeugt, dass zwei Bedingungen für den Jüngsten Tag nun erfüllt seien: Israel war wiederhergestellt, und Jerusalem war jüdisch. Es blieb nur noch, den Dritten Tempel wiederaufzubauen, sieben Jahre Drangsal zu überstehen, gefolgt von der Schlacht von Armageddon, in der der heilige Michael auf dem Ölberg erscheinen würde, um den Antichrist auf dem Tempelberg zu bekämpfen. Dieser Kampf würde in der Bekehrung oder Vernichtung der Juden und in der Wiederkunft und dem Tausendjährigen Reich Jesu Christi gipfeln.
Der Sieg der kleinen jüdischen Demokratie gegen die von den Sowjets bewaffneten Legionen der arabischen Despoten überzeugte die Vereinigten Staaten, dass Israel ihr besonderer Freund in der gefährlichsten Region, ihr Verbündeter im Kampf gegen das kommunistische Russland, den Radikalismus Nassers und den islamistischen Fundamentalismus war. Amerika und Israel hatten aber noch mehr gemeinsam, denn beide Länder bauten auf einem göttlich angehauchten Freiheitsideal auf: Das eine war das neue Zion, die »Stadt auf einem Hügel«, das andere das wiederhergestellte alte Zion. Amerikanische Juden unterstützten Israel ohnehin schon eifrig, aber nun waren amerikanische Evangelikale überzeugt, dass Israel von der göttlichen Vorsehung gesegnet sei. Durchgängig behaupten Umfragen, dass über 40 Prozent der Amerikaner irgendwann die Wiederkehr Christi in Jerusalem erwarten. So übertrieben das sein mag, stellten sich amerikanisch-christliche Zionisten mit ihrem ganzen Gewicht hinter das jüdische Jerusalem, und Israel war dankbar dafür, obwohl die Juden in deren Endzeitszenario eine tragische Rolle spielten.
Israelis aus Westjerusalem, aus ganz Israel und der Diaspora strömten in die Altstadt, um die Westmauer zu berühren und dort zu beten. Der Besitz der Stadt war so berauschend, dass es seither unerträglich und unvorstellbar erschien, sie je wieder herzugeben – und enorme Ressourcen mobilisiert wurden, um ihre Aufgabe faktisch äußerst schwierig zu machen. Selbst der pragmatische Ben-Gurion schlug seit seinem Rücktritt vor, Israel solle das Westjordanland und den Gazastreifen aufgeben, aber niemals Jerusalem.
Offiziell vereinte Israel die beiden Hälften der Stadt und dehnte ihre Grenzen so weit aus, dass sie 267 800 Einwohner hatte – 196 800 Juden und 71 000 Araber. Jerusalem wurde größer, als es jemals in seiner Geschichte war. Noch bevor die Geschütze abgekühlt waren, wurden die Einwohner des maghrebinischen Viertels, das Saladins Sohn Afdal gegründet hatte, in neue Wohnungen evakuiert und ihre Häuser abgerissen, um zum ersten Mal Platz vor der Mauer des Tempelbergs zu schaffen. Nachdem die Juden jahrhundertelang dicht gedrängt auf engstem Raum und unter Schikanen in einer knapp drei Meter breiten Gasse gebetet hatten, war der neue helle, weite Platz vor dem höchsten jüdischen Heiligtum an sich schon eine Befreiung; in Scharen strömten Juden dorthin, um zu beten. Man sanierte das heruntergekommene jüdische Viertel, baute die gesprengten Synagogen wieder auf, weihte sie, erneuerte und verschönerte die verwüsteten Plätze und Gassen, baute oder reparierte orthodox-religiöse Schulen – Jeschiwot –, und das alles in strahlend goldgelbem Stein.
Auch die Wissenschaft wurde gefeiert: Israelische Archäologen machten Ausgrabungen in der vereinten Stadt. Die lange Westmauer wurde aufgeteilt zwischen den Rabbis, die den Teil nördlich vom Maghrebtor für Gebete bekamen, und den Archäologen, die südlich vom Tor graben durften. An der Mauer entdeckten sie im muslimischen und jüdischen Viertel sowie in der Davidsstadt so erstaunliche Schätze – kanaanitische Befestigungen, judäische Siegel, herodianische Grundmauern, makkabäische und byzantinische Mauern, römische Straßen, Omaijadenpaläste, Ajjubidentore, Kreuzfahrerkirchen –, dass ihre wissenschaftlichen Funde mit der politisch-religiösen Begeisterung zu verschmelzen schienen. Die ausgegrabenen Steine – Teile der Stadtmauer Hiskias und herodianische Hausteine, die römische Soldaten auf das Pflaster
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