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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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wurde die Zehnte Legion aus Jerusalem abgezogen, da man die Juden nicht mehr als Bedrohung, sondern eher als Ärgernis ansah. Als Kaiser Mark Aurel, der »häufig von den übelriechenden und unordentlichen Juden abgestoßen war«, auf dem Weg nach Ägypten durch die Stadt kam, verglich er sie scherzhaft mit anderen rebellischen Volksstämmen: »O Quaden, o Samaritaner, endlich habe ich ein aufsässigeres Volk als euch gefunden!« Jerusalem besaß keine natürlichen Einkommensquellen außer seiner Heiligkeit – und der Abzug der Zehnten Legion muss die Stadt noch hinterwäldlerischer gemacht haben.
    Als die friedliche Thronfolge in Rom 193 mit einem Bürgerkrieg endete, kam es zu Unruhen unter den Juden, die mittlerweile überwiegend in Galiläa und an der Mittelmeerküste lebten; sie bekämpften entweder ihre Lokalfeinde, die Samaritaner, oder erhoben sich vielleicht, um den letztlichen Gewinner im Nachfolgestreit, Septimius Severus, zu unterstützen. Das führte zu einer Lockerung der antijüdischen Politik: Der neue Kaiser und sein Sohn Caracalla besuchten 201 Aelia und trafen dort offenbar mit dem jüdischen Führer Juda Hanasi, genannt »der Fürst«, zusammen. Als Caracalla die Thronfolge antrat, belohnte er Juda mit Ländereien in Golan und Lydda (bei Jerusalem), und mit der erblichen Gerichtsbarkeit in religiösen Streitigkeiten und der Befugnis, den Kalender zu bestimmen, womit er ihn als Haupt der Gemeinde – als Patriarchen der Juden – anerkannte.
    Der wohlhabende Juda, der offenbar rabbinische Gelehrsamkeit mit aristokratischem Luxus verband, hielt in Galiläa mit gotischen Leibwachen Hof, während er die Mischna, die mündlichen Überlieferungen des Judentums der Nachtempelzeit, zusammenstellte. Dank Judas Verbindungen zum Kaiser und dank der mittlerweile verstrichenen Zeit durften Juden, nachdem sie die Garnison bestochen hatten, gegenüber von den Tempelruinen auf dem Ölberg oder im Kidrontal beten. Dort wohnte nach ihrer Überzeugung die göttliche Seele, schechina . Angeblich erwirkte Juda die Erlaubnis, dass in Jerusalem eine kleine »heilige Gemeinde« von Juden wohnen durfte, die in der einzigen Synagoge auf dem heutigen Berg Zion beteten. Und dennoch zogen die Severerkaiser nie eine Abkehr von Hadrians Politik in Betracht.
    Die jüdische Sehnsucht nach Jerusalem ließ nie nach. Wo sie in den folgenden Jahrhunderten auch lebten, überall beteten die Juden dreimal täglich darum, dass der Tempel in ihrer Zeit bald wiederaufgebaut werden möge. In der Mischna hielten sie die Tempelrituale in allen Einzelheiten fest, um auf seine Wiederherstellung vorbereitet zu sein. Die Tosefta, eine weitere Zusammenstellung mündlicher Überlieferungen, wies Frauen an, sie dürften ihren gesamten Schmuck anlegen, sollten aber ein kleines Schmuckstück zur Erinnerung an Jerusalem weglassen. Das Sederessen am Vorabend des Passahfestes endete mit den Worten: »Nächstes Jahr in Jerusalem«. Für den Fall, dass sie je nach Jerusalem kommen sollten, ersannen sie ein Ritual, sich beim Anblick der verwüsteten Stadt die Kleider zu zerreißen. Selbst Juden, die weit entfernt lebten, wollten in der Nähe des Tempels begraben werden, um am Tag des Jüngsten Gerichts als Erste aufzuerstehen. So entstand der jüdische Friedhof auf dem Ölberg.
    Es bestanden gute Chancen, dass der Tempel wiederaufgebaut würde – schließlich hatte man ihn schon einmal wiederaufgebaut, und beinahe wäre es wieder geschehen. Während die Juden noch offiziell aus Jerusalem verbannt waren, galten nun die Christen als eindeutige, aktuelle Bedrohung für Rom. [66]
    Ab 235 erlebte das Römische Reich eine Krise, die es 30 Jahre lang von innen und außen erschütterte. Im Osten löste ein starkes Perserreich das Partherreich ab und forderte die Römer heraus. In dieser Krise warfen die römischen Kaiser den Christen vor, gottlos zu sein, weil sie sich weigerten, ihren Göttern zu opfern; sie verfolgten die Christen grausam, auch wenn das Christentum weniger eine einheitliche Religion als vielmehr ein Bündel verschiedener Traditionen war. [83] In den Grundfragen waren die Christen sich jedoch einig: Erlösung und Leben nach dem Tod für alle von Jesus Christus Geretteten, was die alten jüdischen Prophezeiungen bestätigte, die sie übernommen hatten und für sich beanspruchten. Die Römer hatten den Begründer ihrer Religion als Rebellen getötet, aber die Christen sahen sich in ihrem Glauben nicht als Gegner der Römer, sondern der Juden.

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