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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Vicomte durch die Menge. Auf dem Weg durch überfüllte Gassen dachte er an die Worte seines Gefährten. Papst Urban hatte, nachdem der deutsche Kaiser und der französische König gebannt worden waren, im Clermonter Konzil zu fast jeder lastenden Frage eine Antwort erzwungen, die der Heiligen Kirche ebenso wie dem Volk diente: Die Moral der Fürsten und Bischöfe musste sich ändern und bessern. Das Recht auf Asyl und das Verbot aller Kämpfe zwischen Sonntag bis Mittwoch, ein Verbot aller bewaffneten Streitereien, an denen sich Händler, Frauen, Arbeiter, Mönche und Priester beteiligten, und ein Verbot von Kämpfen an kirchlichen Feiertagen würden das Leben aller Menschen erleichtern und auch die Straßen sicherer machen. Wenn sich Adel und Volk an diese Gebote hielten.
    Vielleicht war der heutige Tag ja der entscheidende Anstoß dazu, die Welt ein wenig besser und gerechter zu machen. Die Nachricht von den Stunden vor Clermonts Stadtmauer würde sich verbreiten, schneller als der Wind; so schnell wie die Schleier der lautlosen nächtlichen Lichterscheinungen, die seit Anfang des Jahres von Norden her in den Ländern zwischen den Meeren die Menschen Britanniens, Spaniens, Frankreichs und Italiens, selbst jene in Ungarn mit tiefer Furcht erfüllt hatten.
    An jenem Abend lauschte Rutgar jedem Wort der Mönche und Knechte des Klosters und war, bevor er einschlief, ein wenig hoffnungsvoller als zuvor.

Kapitel II
 
A.D. 1096, 30. T AG DES W INDMONDS (N OVEMBER ),
T AG DES HL . A POSTELS A NDREAS
A BTEI C LUNY , B URGUND , K LOSTERKIRCHE
 
»Der Geist kam über mich an des Herrn Tag, und ich hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune.«
(Offb 1,10)
 
    Der Mönchsgesang schien die mächtigen Säulen der alten Kirche, die Erzabt Hugo von Semur zu einer der größten Kathedralen der Christenheit umbauen ließ, erbeben zu lassen und das neu errichtete Dachgestühl zu erschüttern. Weißgraue Weihrauchschwaden wolkten auf und verschwanden im Dunkel unter den Spitztonnendecken der Langhäuser, die aus sechzig Ellen Höhe den melodischen Schall zerteilten und zurückwarfen. Tausend Kerzenflammen ließen die künftigen Ausmaße dieses unfertigen Gotteshauses erahnen, das nach seiner Fertigstellung die größte Kirche der Christenheit sein würde. Einen unbedeutenden Teil des Vorhabens kannte Jean-Rutgar, denn Weißbart Rasso hatte es ihm erklärt: Die beiden Querschiffe und die Mauern der wuchernden Chöre mit ihren Fenstern und Altären erweiterten wie Lichtinseln im Halbkreis den Ostchor.
    Alleen aus Linden und Steineichen flankierten die gewaltigen Umfassungsmauern, jenseits derer sich mit Weinbergen, Höhlen, Kirchen, Schlössern, Straßen, Brücken, Bauernhöfen und ausgedehntem, fruchtbarem Land die Clunisois erstreckte. Cluny und aller Besitz des Klosters, samt der »Wüsten« der Stiftungsurkunde, unterstanden allein dem Papst.
    Aus Hunderten Mönchskehlen mochte der feierliche Choral den Glanz des Gottesdienstes über ganz Burgund laut ausstrahlen. An diesem frühen Abend schienen Kirche und Kloster der Abtei östlich der Loire das geistige Zentrum zu sein, der benediktinische Mittelpunkt, der kirchliche Macht, Bedeutung und Prunk verkörperte, würdiger Nabel der gesamten römischen Christenheit. Höfisches Gepränge breitete sich zwischen den Mauern des Gotteshauses aus, kostbare Gewänder weltlicher und geistlicher Würdenträger blitzten und funkelten. Aber von der Erregung, deren Wellen wie jene Aufrufe und Glockenklänge aus Clermont über das Land gerast waren, schien der versammelte Adel wenig zu spüren: Anderes schien heute wichtiger.
    Schweigend und gebannt gedachte Erzabt Hugo von Semur, Herr über das riesige, wachsende Kloster und seit sieben Jahren Bauherr des neuen Klosterdoms, seiner Vision Clunys. Er schloss die Augen und sog den sinnbetörenden Duft des Weihrauchs tief in seine Lungen; er dachte an das Geschenk König Alfons VI., jene zehntausend Talente schieren Goldes aus der Araberbeute nach der Eroberung Toledos. Jede Unze würde mithelfen, die Abtei Cluny größer, schöner und mächtiger zu gestalten. Sein Werk, von Abt Odilo zu treuen Händen übernommen, war bereits heute das größte Kloster der Christenheit, so wie der heilige Benedikt es vorausgesehen und geplant hatte.
    Und das Bedeutendste. Omnia ad maiorem Dei gloriam! Nicht einmal zwei Mondwechsel war es her, dass Urban II., Pontifex Maximus aller jener, die des wahren Glaubens waren, den Hochaltar und vier andere

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