Jesses Maria - Hochzeitstag
was? Ich konnte mir Tante Annis Gesicht grade lebhaft vorstellen.
Als wir die Praxis verließen, war Tante Anni tatsächlich sehr entrüstet und regte sich während des ganzen Weges fürchterlich über die Bemerkung des Arztes auf.
„Wie kann der so etwas zu mir sagen! Natürlich habe ich mich untenrum besonders gründlich … du weißt schon!“
Ein ungehobelter Bursche sei dieser Doktor, und nie wieder ginge sie dorthin, was dem denn einfiele, mit einer Dame so zu reden …
Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Zu Hause ging sie direkt ins Schlafzimmer, um die Ausgehsachen wieder auszuziehen. Auch die Unterwäsche, es war ja die „für gut“, zog sie aus, um sie wieder ordentlich in die Schublade zu legen. Dann ein Schrei: „Maria!“
Ich rannte ins Schlafzimmer.
Da stand Tante Anni neben der Frisiertoilette, und mit weit aufgerissenen Augen hielt sie mir ihren guten Schlüpfer entgegen. Pinkfarbener Glitzerstaub rieselte heraus. Tante Anni sah an sich herunter. Ihr Gesicht erstarrte. Ich folgte ihrem Blick und brach vor Lachen fast zusammen.
Tante Anni hatte die Flasche mit dem Intimspray mit meinem Glitzerhaarspray verwechselt.
Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff
Bei diesem Lied fällt mir Tante Anni noch mal ein.
„Ich hab alles im Griff “ - das war früher einer ihrer Standardsätze. Und wenn sie mal nicht alles im Griff hatte, dann hatte das sehr triftige Gründe.
Einmal war sie nachmittags mit Onkel Günter zum Einkaufen in den Werrepark gefahren. Das ist ein riesiges Einkaufszentrum mit einem riesigen Parkplatz.
Tante Anni wollte nur schnell zu Mister Minit und ein Paar Stiefel abholen, das sie zum Besohlen gebracht hatte. Onkel Günter blieb derweil im Auto, hörte Radio und paffte dabei eine Zigarre. Sie fuhren damals einen weißen Audi 80. Der Audi parkte in der zweiten Reihe vor Ausgang D.
Tante Anni nahm ihre Handtasche und ging durch Ausgang D zu Mr. Minit. Der war sehr beschäftigt und Tante Anni musste lange warten. Während sie Mister Minit beim Arbeiten zusah, wurde sie plötzlich unruhig. In ihr begann es zu blähen und zu brodeln.
Zu Mittag hatte es frischen Grünkohl mit ordentlicher westfälischer Kohlwurst gegeben. Tante Anni hatte reichlich davon gegessen, obwohl sie ganz genau gewusst hatte, dass sie keinen Kohl vertragen konnte. Keinen Kohl und keine Hülsenfrüchte, auch nicht, wenn sie ordentlich Kümmel reintat, um die blähenden Nebenwirkungen einzudämmen.
„Ein Zugeständnis an meinen über sechzig Jahre altenDarm“, sagte sie kokett zwinkernd, wenn sie solche Gerichte ablehnte, und jeder wusste, dass ihr Darm nachweislich über siebzig Jahre alt war.
An diesem Mittag hatte Tante Anni ausnahmsweise alle Zurückhaltung aufgegeben und Grünkohl gegessen.
Das hatte sie nun davon. Nun stand sie im engen Geschäft von Mister Minit, vor ihr warteten zwei Kunden, hinter ihr auch zwei. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen, zappelte ein bisschen mit dem Oberkörper, drückte fest zusammen, was sie zusammendrücken konnte, ahnte aber, dass sie diesem unglaublichen Druck, der sich untenrum aufbaute, nicht mehr lange gewachsen sein würde.
Schließlich klemmte sie entschlossen die Krokotasche unter den Arm, atmete tief ein und flitzte, so schnell sie das mit ihren dünnen Beinen in den Gesundheitsschuhen konnte, vor die Tür. Just wollte sie alle Winde sausen lassen, als sie sah, dass ihre Nachbarin Lene Kracht auf sie zukam und fröhlich winkte. „Huhu, Anni!“
Oh Gott, oh nein! Sie konnte doch nicht … Wenn die Nachbarin … wenn die das hörte! Oder sogar roch … man konnte ja nicht wissen, wie laut oder wie stinkend das werden würde … Tante Anni drehte sich grußlos auf dem Absatz um, mit den Konsequenzen dieses Verhaltens konnte sie sich jetzt nicht befassen, und hastete mit kleinen Schritten zu Ausgang D.
Draußen würde sie es endlich tun können, dort würde es niemand hören.
Oh nein. Das konnte doch nicht wahr sein. Eva Hansmeier aus dem Lottoladen kam direkt auf sie zu. Tante Anni tat,als habe sie sie nicht gesehen, rannte weiter zum Parkplatz, so schnell war sie seit Jahren nicht gerannt, riss die Tür des weißen Audi auf, ließ sich atemlos in den Sitz plumpsen und dann endlich, laut knatternd und unendlich befreiend, einen fahren.
„Ich hab das nicht mehr ausgehalten“, sagte sie und drehte sich verlegen grinsend zu Onkel Günter.
Und dann blieb ihr Herz fast stehen.
Neben ihr saß kein Onkel Günter.
Neben ihr saß ein
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