Jesses Maria - Hochzeitstag
Obwohl sie gar nicht hässlich war. Diese Trudi ging regelmäßig ganz allein ins „Wittekinds-Eck“, setzte sich an die Theke, immer an denselben Platz vor dem beige-roten Schiff für die Spenden zur Rettung Schiffbrüchiger und bestellte sich ein Pils und einen Boonekamp. Immer als Gedeck. Dazu aß Trudi manchmal eins von diesen Sülzkoteletts aus der Dose. Die waren vorne im Tresen auf geriffelten Papierservietten als Pyramide aufgebaut und mit Plastikpetersilie dekoriert. Trudi saß gern an dem alten Merkur-Spielautomaten neben der Heizung. Sie hatte offenbarein ganz bestimmtes System, eine ausgeklügelte Reihenfolge, um auf die roten Tasten zu hauen. Und wenn sie gewann, schrie sie: „Große Serie!“ Und dann gab sie von den Münzen, die unten rausklimperten, eine Lokalrunde aus. Nun waren im „Wittekinds-Eck“ selten mehr als zwanzig Leute und das Bier kostete einszwanzig, es war also kein Vermögen, das sie ausgab, aber die Geste war sehr nett.
Trudi nahm nach einer Serie jedes Mal die Musikbox in Beschlag und drückte Musik, die reichte für zwei Stunden. Immer dasselbe: „Dich zu lieben“ von Roland Kaiser, „Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht ein“ von Münchner Freiheit und „Die weißen Tauben sind müde“ von Hans Hartz. Und dann tanzte Trudi. Ganz alleine.
Manchmal beneidete ich sie darum, dass sie sich das traute.
Hab ich zu Manni auch gesagt: „Ich finde Trudi gut, die ist irgendwie so frei.“ Manni guckte mich nur komisch an und sagte nichts.
Eines Abends kam Trudi von der Toilette. Sie schwankte tänzelnd auf die Theke zu, nahm das Fläschchen Boonekamp, das neben ihrem Pilsglas stand, klopfte damit dreimal auf die Theke, schraubte den Deckel ab, sagte grinsend: „Nicht lang schnacken, Kopp in‘n Nacken!“, und kippte den Schnaps auf ex. Dann drehte sie sich um und ging zur Musikbox, denn das letzte Lied war in dem Moment zu Ende.
Oh mein Gott.
Eine Sekunde lang war es totenstill im „Wittekinds-Eck“.
Dann brach unbeschreibliches Geschrei los.
Trudis Rock steckte nämlich hinten in ihrer Stützstrumpfhose.Und oben aus der Strumpfhose „wuchs“ Klopapier. Es klemmte zwischen ihren Pobacken, kam oben aus der fleischfarbenen Unterhose heraus, floss an ihrem schlaffen Hintern und den Beinen herunter, lag wie ein grauer Drachenschwanz auf dem Boden und führte bis zur Toilettentür.
Sie hatte sich auf dem Klo den Hintern abgeputzt und das Papier nicht abgerissen, sondern es durch die ganze Kneipe hinter sich her abgerollt. Trudi guckte wie ne Gans wenn‘s donnert, als wir zu lachen, nein, zu kreischen begannen, mit den Fingern auf sie zeigten, uns auf die Schenkel klopften und uns überhaupt nicht mehr beruhigen konnten.
Und dann sagte Manni zu mir: „Sowas passiert Frauen, die sich alleine besaufen. Findest du das immer noch gut?“
Natürlich nicht.
Aber bitte mit Sahne
Ich erinnere mich noch ziemlich gut daran, wie entrüstet meine Tante Anni war, als dieses Lied rauskam. Damals muss ich ungefähr fünfzehn gewesen sein.
Tante Anni und ihre Freundinnen Meggi und Kaka (sie hießen eigentlich Margret und Erika) trafen sich nämlich regelmäßig im „Café Finselbach“ in der Klosterstraße. Die Etagen des Cafés waren unterschiedlich eingerichtet: Unten gediegen und bieder, im Zwischengeschoss weiß und verschnörkelt und oben modern mit Tapeten in Riesenmustern und bunter Auslegware. Die Kellnerinnen waren durchweg ausgebildete Kräfte mit Fachkenntnis und Manieren, sie trugen schwarze Röcke, weiße Blusen, weiße Schürzen und Gesundheitsschuhe. Das gibt es heute kaum noch.
Anni, Meggi und Kaka also, drei aufgebrezelte ältliche Damen, trafen sich hier jeden Mittwoch um halb vier, nach dem Mittagsschläfchen und vor dem Spaziergang im Kurpark. Im Kurpark spazieren zu gehen war ein Statussymbol, denn für Einheimische kostete das Betreten Eintritt. Die Kurgäste durften mit der Kurkarte umsonst rein.
Tante Anni kam seit Ewigkeiten ab Ende Oktober im schwarzen Persianer mit grauem Nerzkragen zum Kaffeetrinken ins Café Finselbach. Sie besaß sogar einen passenden Muff und eine passende Nerzkappe zu diesem Ensemble. Dadurch war sie in der Rangordnung der Freundinnen am höchsten.
In diesem Jahr aber trugen auch Meggi und Kaka plötzlichPelz: Meggi hatte eine neue Jacke aus Fehwamme an, und Kaka führte stolz ihren Bisam-Mantel vom Quelle-Versand aus.
Ab und zu leistete ich Tante Anni Gesellschaft, besonders, wenn mein Taschengeld schon verbraucht war und
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