Jesses Maria - Hochzeitstag
wieder ihren sechsundsechzigsten Geburtstag. Sie sagte: „Es gibt Dinge, die braucht keine Frau: eine Sieben vor der Null, Tränensäcke, Damenbart und hängendes Kniefleisch gehören dazu.“
Tante Anni trug wegen der Tränensäcke gern Sophia-Loren-Sonnenbrillen, den Damenbart rasierte sie mit dem Nassrasierer von Onkel Günter und das hängende Kniefleisch quetschte sie in fleischfarbene Thrombosestrümpfe.
Mit Mitte siebzig wurde Tante Anni dann langsam tüdelig.
Ich erinnere mich daran, dass wir irgendwann mal auf das Thema „Frauenarzt“ zu sprechen kamen. Ich fragte Tante Anni der Gelegenheit, wann sie denn zuletzt beim Frauenarzt gewesen sei. Sie sah mich verdutzt an und überlegte: „Zehn Jahre wird das her sein, Maria. Damals war Dr. Buschjost ja noch in seiner Praxis. Nachdem er aufhörte, habe ich mir keinen neuen Arzt gesucht. Außerdem bin ich jetzt in einem Alter, da brauche ich nichts mehr vom Frauenarzt. Ich hab alles im Griff.“
Oho, da wurde ich aber sauer: „Alles im Griff? Tante Anni, du musst regelmäßig zum Frauenarzt, egal, wie alt du bist! Du musst doch zur Krebsvorsorge gehen, so unvernünftig kann man ja gar nicht sein, das gibt‘s doch gar nicht.“
Als ich ein junges Mädchen war, gab es noch Krankenschein-Scheckhefte.Wenn man zum Arzt ging, füllte man einmal im Quartal den Krankenschein aus und gab ihn ab. Und die Scheine für die Vorsorge, die schickten sie einem automatisch zu, ich glaube, es gab sie zweimal im Jahr. Die haben uns Frauen von der Krankenkasse aus total verrückt gemacht mit dieser Krebsvorsorge. Sie schickten Briefe und Broschüren und sagten immer wieder, dass man die Vorsorge nie vergessen dürfe. Ich hatte das so verinnerlicht, dass ich schon bald glaubte, die Vorsorgeuntersuchungen an sich seien schon eine Lebensversicherung. Ich bin natürlich immer hingegangen, auch später, als die Versichertenkarten eingeführt wurden und man sich an die jährlichen Vorsorgetermine selber erinnern musste. Danach haben sie eingeführt, dass man alles, was sie einem früher an Untersuchungen nachgeschmissen haben, selber bezahlen musste. Überall spielen die Großen mit der Angst der kleinen Leute. Ein Jahr hab ich den Termin mal vergessen. Ich bin tausend Tode gestorben, bevor ich das Ergebnis hatte.
Als Tante Anni also sagte, sie sei mindestens zehn Jahre nicht mehr beim Frauenarzt gewesen, hab ich ihr sofort einen Termin gemacht. Bei Dr. Schnüll, da geh ich jetzt auch hin. Der ist hässlich, aber nett.
Tante Anni war so aufgeregt wie vor einem Date. Deswegen hab ich ihr auch angeboten, ihr bei den Vorbereitungen zu helfen und mitzukommen. Wie gesagt, sie wurde langsam klapprig und vergaß auch viel. Morgens bin ich zu ihr gefahren und hab ihr erst beim Duschen geholfen. Ich hatte ihr alles Mögliche besorgt: Eine neue Bodylotion, weil ihre Flasche mit der Nivea-Milch schätzungsweise zuletzt beim letzenFrauenarztbesuch benutzt worden war. Neues Deo hatte ich gekauft und außerdem Intimspray mit Lavendelduft. Ich hab Tante Anni die Kulturtasche mit den Sachen auf die Waschmaschine im Bad gestellt und sie nach dem Duschen alleine gelassen. Derweil hab ich ihr einen vernünftigen Schlüpfer mit passendem Hemdchen und Unterrock rausgelegt. Tante Anni kam frisch duftend aus dem Bad und zog sich an. Sie war wirklich nervös und bat mich, bei der Untersuchung dabei zu sein.
Dr. Schnüll war verständnisvoll und erlaubte, dass ich hinter einem Paravent im Behandlungszimmer saß, während er zu Tante Anni sagte, sie möge sich bitte zuerst obenrum kurz freimachen.
Es knisterte leise neben dem Paravent, als sie das Kleid und den Perlonunterrock auszog.
„Stellen Sie sich bitte mit den Füßen auf diese Markierungen“, sagte Dr. Schnüll.
Ich hörte nackte Füße auf Linoleum.
„Klappen Sie bitte mal Ihre linke Brust hoch“, sagte der Doktor und Tante Anni atmete scharf ein. Das ist aber auch ein Scheißsatz. Sobald das mal einer zu mir sagen wird, weiß ich, dass ich richtig alt bin. Conny meinte neulich, wenn man sich einen Stift unter die Brust klemmt und der nicht runterfällt, sollte man nicht mehr ohne Büstenhalter gehen. Natürlich nicht!
Nebenan kletterte Tante Anni nun ächzend auf den Untersuchungsstuhl. Plötzlich hörte ich Dr. Schnüll verhalten prusten und dann mit belegter Stimme sagen: „Oh, da habenwir uns aber heute fein gemacht!“
Wie bitte? Das ist doch ganz normal, dass man sich vor der Untersuchung vernünftig wäscht? Warum sagt der so
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