Jesus von Nazareth - Band II
(6,7).
Dennoch hat Paulus diese Frage nicht ausgelassen: Dass im Kreuz Jesu Christi alle Opfer erfüllt sind, dass in ihm geschehen ist, was die Intention aller Opfer gewesen war – Entsühnung –, und dass so Jesus selbst an die Stelle des Tempels getreten, selber der neue Tempel ist – das steht, im Gegenteil, im Zentrum seiner Lehre.
Ein kurzer Hinweis mag genügen. Der wichtigste Text findet sich im Brief an die Römer (3,23ff): „Alle haben gesündigt und entbehren der Herrlichkeit Gottes. Sie werden umsonst in seiner Gnade gerechtfertigt durch die Erlösung in Christus Jesus. Ihn hat Gott öffentlich als Sühne aufgestellt, die kraft seines Blutes durch Glauben (ergriffen wird) zum Erweis seiner Gerechtigkeit, so dass er die zuvor begangenen Sünden dahingehen ließ.“
Das Wort, das hier mit „Sühne“ übersetzt ist, lautet im Griechischen
hilastērion
, im Hebräischen
kapporät
. Damitwurde die Deckplatte der Bundeslade bezeichnet. Sie ist der Ort, über dem in einer Wolke JHWH erscheint, der Ort der geheimnisvollen Gegenwart Gottes. Dieser heilige Ort wird beim Versöhnungsfest – dem
Jom ha-Kippurim
(vgl. Lev 16) – mit dem Blut des als Sündopfer getöteten Stiers besprengt, „dessen Leben so stellvertretend für das verwirkte Leben der menschlichen Sünder Gott anheimgegeben wird“ (Wilckens II/1, S. 235). Der Gedanke dabei ist, dass das Opferblut, in das alle menschlichen Sünden aufgenommen sind, die Gottheit selbst berührt, so gereinigt wird und dabei die Menschen, für die dieses Blut steht, durch die Berührung mit Gott gereinigt werden: ein in seiner Größe und zugleich in seiner Unzulänglichkeit erschütternder Gedanke, der nicht das letzte Wort der Religionsgeschichte, nicht das letzte Wort der Glaubensgeschichte Israels bleiben konnte.
Wenn Paulus das Wort
hilastērion
auf Jesus überträgt, ihn als den Verschluss der Bundeslade und so als Ort der Gegenwart des lebendigen Gottes bezeichnet, dann wird die ganze alttestamentliche Kulttheologie (und mit ihr die Kulttheologien der Religionsgeschichte überhaupt) „aufgehoben“ und auf eine ganz neue Höhe gebracht. Jesus selbst ist die Gegenwart des lebendigen Gottes. In ihm berühren sich Gott und Mensch, Gott und die Welt. In ihm geschieht das, was mit dem Ritus des Versöhnungstages gemeint war: In seiner Hingabe am Kreuz legt Jesus gleichsam alle Schuld der Welt in die Liebe Gottes hinein und löst sie darin auf. Hintreten zum Kreuz, in Gemeinschaft treten mit Christus bedeutet das Eintreten in den Raum der Verwandlung und der Entsühnung.
Dies alles ist für uns heute schwer zu verstehen; wir werden bei der Behandlung des Letzten Abendmahls unddes Kreuzestodes Jesu ausführlich darauf zurückkommen und uns um Verstehen mühen müssen. Hier ging es eigentlich nur darum, zu zeigen, dass Paulus die Aufhebung des Tempels und seiner Opfertheologie in die Christologie hinein bereits vollständig vollzogen hat. Der Tempel mit seinem Kult ist für Paulus in der Kreuzigung Christi „abgebrochen“; an seiner Stelle steht nun die lebendige Bundeslade des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Wenn wir mit Ulrich Wilckens annehmen dürfen, dass Röm 3,25 eine „judenchristliche Glaubensformel“ ist (I/3, S. 182), dann sehen wir, wie früh diese Einsicht in der Christenheit gereift war – dass diese von Anfang an wusste: Der Auferstandene ist der neue Tempel, der wirkliche Berührungsort zwischen Gott und Mensch. Wilckens kann daher auch mit Recht sagen: „Christen haben wohl von Anfang an am Tempelkult schlicht nicht teilgenommen … Die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. war daher für Christen kein eigenes religiöses Problem“ (II/1, S. 31).
So wird aber auch sichtbar, dass die große theologische Vision des Hebräer-Briefs nur im Einzelnen ausfaltet, was im Kern schon bei Paulus gesagt ist und was Paulus selber wiederum in seinem wesentlichen Gehalt schon in der vorliegenden kirchlichen Überlieferung vorfand. Wir werden später sehen, dass das Hohepriesterliche Gebet Jesu auf seine Weise im gleichen Sinn das Geschehen des Versöhnungstages und damit die Mitte der alttestamentlichen Erlösungstheologie neu auslegt und im Kreuz erfüllt sieht.
DIE ZEIT DER HEIDEN
B ei einem oberflächlichen Lesen oder Hören der eschatologischen Rede Jesu muss der Eindruck entstehen, Jesus habe das Ende Jerusalems chronologisch ganz unmittelbar mit dem Weltende verknüpft, besonders wenn bei
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