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Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch

Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Pieper , Annette Großbongardt
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könnte sogar sagen: Wahrscheinlich war die Jesusbewegung in ihrem Ursprung eine Art Mittelschichtbewegung in Zeiten großer Orientierungslosigkeit. Acht weitere Jünger wurden den Evangelien zufolge berufen, bis der Zwölferbund komplett war. Im Judentum ist die Zwölf eine hochsymbolische Zahl: Die zwölf Söhne Jakobs waren die Gründungsväter der zwölf hebräischen Stämme, für die wiederum nun die zwölf Jünger standen und so Jesu Anspruch auf die Herrschaft über ganz Israel und die ganze israelische Geschichte ausdrückten.
    War Jesu Wirken nun Ausdruck der spirituellen und sozialen Krise jener Zeit – oder eher die Antwort auf sie? Darüber sind sich die Forscher ebenso wenig einig wie über die Frage, ob seine friedliche Botschaft aus dem konfliktfreien Raum Galiläas zu erklären ist. Sicher ist nur, dass er um das Jahr 28 plötzlich aktiv wurde und eine ganz andere, eine von Solidarität und wechselseitiger Zuwendung geformte Gesellschaft forderte. Das war völlig verschieden von dem, was die römischen Herrscher im Sinn hatten und die jüdischen Autoritäten wollten, und das konnte auf Dauer nicht gutgehen.
    Dass der bukolische Wandercharismatiker, der offenbar gern aß und trank, schließlich in die große Stadt Jerusalem zog, ist unbestritten. Aber warum tat er es? Er muss gewusst haben, in welche Gefahr er sich begab, als er vor Beginn des Pessachfestes, dem späteren Palmsonntag vor Ostern, von Betfage über Betanien unterhalb des Ölbergs auf einem Eselsfohlen von Osten her in die heilige Stadt ritt, um, wie es bei den Evangelisten heißt, den Tempel zu »reinigen«. Er muss gewusst haben, dass Judäa seit 20 Jahren latentes Unruhegebiet war. Er muss gewusst haben, dass eine Menge Propheten in Jerusalem ihr Ende gefunden hatten. Und er muss gewusst haben, dass sein Einzug eine Provokation für die jüdischen Autoritäten war. Warum kam er trotzdem?
    Womöglich gerade deswegen: um in der ihm eigenen, kompromisslosen Weise die letzte Entscheidung zu suchen. Seine Anhänger verehrten ihn, aber seine Gegner, vor allem die konservative Laienbewegung der Pharisäer, waren zahlreicher und lautstarker geworden, und außerhalb Galiläas wurde seine Botschaft zunehmend abgelehnt. Wer in die heilige Stadt einzieht, den Tempel aufsucht, Verkäufer aus dem Vorhof vertreibt, Tische der Geldwechsler und Stände der Taubenkrämer umstößt – zeigt der nicht sein wahres, ein aggressives, zorniges Gesicht? Indizien für eine Hitzköpfigkeit Jesu gibt es sonst nirgends, und doch stellt sich die Frage: Was bezweckte er mit dem Eklat? Wollte er den zur »Räuberhöhle« verkommenen Tempel, wie er schimpfte, als Zentrum des Judentums in Frage stellen – oder wollte er, im Gegenteil, dessen ursprüngliche Bedeutung als Bethaus wiederherrichten? Oder war alles nur Protest gegen die wirtschaftliche Macht der Tempelaristokratie, die vom Handel in den Vorhöfen anteilig profitierte?
    Der Tempel war das sensibelste Territorium der hochsensiblen Stadt Jerusalem. An der Ecke des Vorplatzes hatten die Römer eine Festung installiert und eine Garnison stationiert; die jüdischen Tempelpolizisten überwachten das gesamte Areal, um bei jedem Verdacht auf Unruhestiftung sofort einzugreifen. Jesus, resümiert der Schweizer Neutestamentler Ulrich Luz, habe sich um das offenkundige Risiko, das er einging, überhaupt nicht gekümmert. »Er hat in der Tat seinen möglichen Tod bewusst in Kauf genommen oder ihn sogar gewollt.« Aber warum? Welchen Sinn macht der Tod des Messias, da er doch gerade erst gekommen war? Aus jüdischer Sicht keinen: Wenn der Messias stirbt, stirbt die Hoffnung auf den Erretter und das durch ihn kommende Heil.
    Als Messias war Jesus also gescheitert: Der neue Davidide hing, erniedrigt und gedemütigt, am Kreuz, die Römer blieben dominante Besatzer, und das Volk war nach wie vor zerstreut. Genau genommen steht am Anfang des Glaubenswunders von Jesus das totale Versagen: Jener, der die Vollmacht Gottes zu besitzen vorgab, hat eben diese Vollmacht doch nicht. Würde er sonst sterben? Ein Irrtum. Eine Katastrophe. Tatsächlich? Nicht aus christlicher Sicht. Wenig später hieß es auf einmal, Jesus, der Christus, sei für die Sünden der Menschen gestorben. Auch das war neu, und es war ein ganz anderes Verständnis von einem Messias, als man es aus den jüdischen Texten bisher kannte. Auf einmal war der Tod des Gottgesandten nicht die alles widerlegende Katastrophe, nein: Er war folgerichtiger Bestandteil des

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