Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Wundertaten nicht mehr getan. Matthäus stellt die Reden und Gleichnisse des Gottessohnes in den Mittelpunkt seiner Erzählung. Sein Jesus fordert Gehorsam von den Jüngern. Er spricht vom großen Weltgericht, er tadelt die »Kleingläubigen«, die wie Petrus auf dem See Genezareth nicht unbedingt auf Gott vertrauen und deshalb untergehen.
Evangelist Matthäus
(Fresko, 15. Jahrhundert)
ALINARI/INTERFOTO
Den Mahnungen stellt Matthäus den Gott der Liebe zur Seite. Er ist Anwalt der Kleinen und Gebrechlichen, er fordert Feindesliebe statt archaischer Rache. Nur in Bezug auf die Juden gilt das nicht. Matthäus lastet ihnen – noch mehr als es Markus tut – die Schuld an Jesu Tod an. Historisch wahrscheinlicher ist es jedoch, dass Jesus ohne Beteiligung jüdischer Instanzen von den Römern verurteilt wurde. Ausgerechnet Matthäus, der den Glauben an die Tora vertiefen und nicht verwerfen will, stellt die Juden als Gottesmörder dar. »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!«, lässt er die jüdische Volksmenge brüllen und so die Folgen von Pilatus’ Urteil auf sich nehmen. Ein Satz, mit dem über Jahrhunderte hinweg Christen Gewalt gegen Juden begründet haben.
Das Lukasevangelium erzählt mit der Legende vom Kind in der Krippe eine sehr emotionale Variante der Jesus-Geschichte – in der Absicht, eine stimmige Biografie von der Geburt bis zu Tod, Auferstehung, Himmelfahrt zu liefern. Der Verfasser gibt sich im Prolog als gebildeter, historisch versierter Schreiber zu erkennen, er will es besser machen als seine Vorgänger und die Ereignisse auf »sicherem Grund« wiedergeben. Auch Lukas ist kein Historiker im modernen Sinne; er formt aus dem Markusevangelium, der Logienquelle und anderen, heute verschollenen Schriften und Erzählungen seine Sicht der Dinge. Lukas hat wahrscheinlich auch die Apostelgeschichte geschrieben; Wortschatz und Stil gleichen dem Lukasevangelium.
Früher dachte man, dass Lukas Arzt war und Paulus begleitet hat – eine höchst unwahrscheinliche Zuordnung. Der Autor schreibt quasi aus der Vogelperspektive: Er interpretiert das Leben Jesu als historisches Ereignis. Dieser Heilszeit folgt nun das Weiterleben des Glaubens in den christlichen Gemeinden. Die Auseinandersetzungen mit den Juden sind nicht mehr wichtig für ihn. Seine Perspektive ist die (römische) Weltgeschichte, in die er das Ereignis einordnet und allen Menschen zugänglich machen möchte. Die Römer kommen bei Lukas ziemlich gut weg. Wahrscheinlich hat er seine Erzählung zu einer Zeit geschrieben, als er hoffen konnte, dass die Römer es gut mit den Christen meinen, vermutlich zwischen 80 und 90. Danach, in der Endphase von Kaiser Domitians Herrschaft, sah das wieder anders aus. Vermutlich kam der gebildete Lukas aus dem hellenistischen Raum und hat sein Werk in Griechenland oder Italien zu Papyrus gebracht.
Lukas macht gleich am Anfang klar, worum es ihm geht: um die soziale Botschaft. Die Herrlichkeit Gottes manifestiert sich in einem hilflosen Kind. Die Engel verkünden den Hirten die »große Freude« – nicht Herrschern und Königen. Der Gegensatz von Arm und Reich, von Außenseitern und Etablierten, von Sündern und scheinbar Rechtschaffenen durchzieht seinen Text wie kein anderes Evangelium – offenbar gibt es in den Christengemeinden seiner Umgebung große soziale Unterschiede. Lukas’ Herz schlägt für die Zöllner und Prostituierten, für Ehebrecher, für Fremde wie den barmherzigen Samariter. Bei Lukas lassen die Jünger allen Besitz zurück, um Jesus zu folgen.
Die Repräsentanten der guten Gesellschaft stehen meistens schlecht da. Zum Beispiel Simon, der Pharisäer, in dessen Haus Jesus zum Essen eingeladen ist. Bei Markus und Matthäus ist dieser Simon ein Aussätziger. Lukas macht aus ihm einen wohlhabenden Mann. Die Herrschaften sitzen zu Tisch, da kommt eine stadtbekannte Prostituierte und salbt Jesus die Füße. Der Hausherr wundert sich, dass Jesus diese unerhört intime Begebenheit zulässt. Jesus verteidigt die Frau und kritisiert den Hausherrn: Als Gastgeber hätte doch er auf die Idee kommen können, ihn zu salben. Markus und Matthäus sehen in Jesus den Gottessohn. Lukas lässt unterm Kreuz den römischen Hauptmann sagen: »Wahrlich, dieser Mensch war ein Gerechter.«
Und dann das Johannesevangelium. »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« Wer denkt sich einen solchen Satz aus? Der Verfasser beschreibt kein historisches Geschehen, kein der
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