Jesuslatschen - Größe 42
schadet ihnen bestimmt nicht.
Ich verordne mir eine längere Wanderpause. Im Kreise der lieben Eidechsen,
welche bei jeder Bewegung weghuschen, ist es gar nicht mehr so einsam.
Nach einem erneuten Gehversuch, schaffe ich es
gerade noch bis Ribadesella . Als ich die Treppe zum
Marktplatz heruntergehumpelt komme, vernehme ich ein lautstarkes „Rudi“. Gérald
sitzt dort ganz entspannt auf einer Bank. Als er mich so kommen sieht, fehlen
ihm die Worte. Nach kurzem Überlegen sagt er in einem sehr ernst gemeinten
Englisch mit deutschem Akzent: „Rudi, you are eine Holzschädel.“ Da hat er recht, ich will auf keinen
Fall aufgeben und auf jeden Fall weiter.
Sein Angebot, hier in Ribadesella in einem recht noblen Hotel zu schlafen, nehme ich nicht an. Es ist mir einfach
zu teuer und entspricht nicht meiner Erwartung an diese Reise. Wieder einmal
verabschieden wir uns.
Fünf lange Kilometer hieve ich mich nun
bergauf nach San Estaban . Dort sehe ich schon von
weitem, oben auf dem Berg, ein altes Schulgebäude. Nach der Anmeldung bin ich
Herr über vierundzwanzig Liegen. Es geht hier sehr unkompliziert zu.
Eine heiße Dusche und die
Extra-Wellness-Pflege der Füße sind eine Wohltat. Der Garten am Haus ist von
einer Mauer umfriedet. An dessen unterem Ende befindet sich sogar ein Wäschetrockenplatz,
welch ein Luxus. Die Besitzerin meint, ich könne mich in diesem kleinen Paradies
ausruhen.
Total ausgelaugt aber dennoch entspannt sitze
ich am Tisch und genieße nun meine eigenen Essenreste. Denn hier oben bekommt
man gar nichts zu kaufen. Also kocht heute Schmalhans. Ich muss mich mit ½ Baguette,
1 Naranja (Orange), ¼ Käse, ½ l Wasser und einer
Magnesiumtablette begnügen.
Im Garten spüre ich die Abgeschiedenheit und
die Freude darüber, hier meine Ruhe gefunden zu haben. Ich habe schon gestern
gemerkt, dass ich lieber wieder allein gehen möchte. Es ist gut, wenn jemand
dabei ist und man etwas erfährt, aber richtig erfahren kann ich diesen Weg nur
im Alleingang. Gehen, staunen, sich hinlegen, sinnen, in sich gehen, Umwege
laufen, singen, lesen, genießen wo und wann man Lust darauf hat. Klar, muss ich
auch mit anderen können, aber niemals müssen.
Wenn ich hier in diesem schönen Garten sitze,
fehlt mir nichts und keiner. Das ist kein falscher Stolz, es ist meine innere
Einstellung zu meinem Vorhaben. Das Gesagte soll auf keinen Fall meinen
Weggefährten Gérald in ein falsches Licht rücken, denn dieser Mensch hat mir
gegenüber schon einigen Vorsprung, nicht nur nach Kilometern gemessen. Ich bin
der Jüngere, ich werde lernen.
Zumal ich hier in der alten Schule
untergebracht bin. Einem Ort eigens zum Lernen erbaut. Der Klassenraum lässt
mich von den zehn Jahren Schulzeit in der Merseburger „Albrecht-Dürer-Schule“
träumen.
Gut finde ich, dass sich meine Schule schon in
Zeiten, als die meisten Schulen noch Heldennamen trugen, durch ihren Namen mit
der Kunst verband. Zudem meine Lieblingsfächer Kunst, Musik und Literatur
waren. Ein Werk Albrecht Dürers bekommt unvermittelt derzeit eine neue
Wertigkeit. Der Holzschnitt von Albrecht Dürer zeigt einen wandernden Pilger
mit einem, der „Himmelsscheibe“ ähnlichen, Wappen in der linken Hand. Die
Sterne auf dieser Tafel sollen gewiss auf den Sternenweg hinweisen.
Ich gebe zu, ich habe in späteren Klassen auch
schon mal geträumt. Meist waren es erholsame Tagträume wenn der Lernstoff
langweilig war. Das meiste lernt einem ohnehin das Leben.
Nun sage ich in diesem Sinne - meinen
Lehrern - Gute Nacht.
Samstag, 29.04.2006
San Estaban - La Isla
Als ich aus dem Klassenzimmerfenster schaue,
erblicke ich erst beim zweiten Hinsehen in der Ferne, Gérald. Die lang
gewachsene Gestalt, der Hut und natürlich der gebogene Pilgerstab, kein
Zweifel. Er ist es, der garantiert schon eine halbe Stunde seine großen
Schritte durch die weite Landschaft lenkt. Rufen macht wenig Sinn, pfeifen
möchte ich nicht nach meinem „Lehrer“. Also bleibt mir nur langsam auf die
Beine zu kommen und wieder „Fahrt“ aufzunehmen.
Der heutige Weg ist für mich ein Traum.
Morgentau glänzt auf den Wiesen in der ersten Sonne. Die Vögel geben alles und
in allen Stimmlagen. Der Wald ist heute ein Gewandhaus, warum nicht? Ständig
schaut irgendwo das Meer durch und lenkt den Blick in die ersehnte Ferne.
Direkt vor mir, sucht sich ein kleiner Bach quirlig seinen bestimmten Weg zum
Meer. Wie zum Abschied, stehen an seinem üppig bewachsenem Ufer Farne,
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