Jesuslatschen - Größe 42
in der Ferne den Blick auf
eine Kokerei und ein Kraftwerk frei, beides gleichrangige Dreckschleudern. Nach
einem erheblichen Anstieg, trabe ich stupide durch eine kilometerlange Ebene.
Die Natur ist nicht so vordergründig wie bei den letzten Stationen meiner
Reise. Sicher liegt das am fehlenden Schutz der Berge. Hier ist das Klima
einfach rauer. Was dann folgt, ist das ödeste, was ich bislang erwandert habe.
Auf einer Länge von zehn Kilometern Gießereien,
Schrottplätze, Walzwerke, Kokereien, Lagerhallen und trostlose Ortschaften ohne
Glanz. Auch die Menschen, denen ich begegne, erwidern kaum einen Gruß. Legt
sich diese Tristesse auf mein Gemüt, um sich dann in der äußeren Erscheinung zu
spiegeln? Bin ich es vielleicht, der hier nicht klarkommt? In einer kleinen
Straßenbar frage ich nach dem Weg zur Herberge. Der Besitzer zeichnet mir mit
vier Strichen eine Skizze. Strich, Strich, Ampel, Strich, fertig ist ein
Ministraßenplan. Der Künstler kommentiert ein Kreuz auf dem Papier mit „ Aqui esta “, hier ist es. Ich
möchte gern etwas essen. Fehlanzeige. Ein Glas kalte Cola und eine Schale
Oliven sind das Einzige, was er mir derzeit anbieten kann. Nebenher unterhalten
wir uns über Asturien und diese Industrieregion um Gijon . Nach fünf Minuten emsigen hantieren am Computer,
winkt er mich heran und zeigt mir den gerade beschriebenen Weg. Auf dem
Bildschirm erscheint ein Wegplaner von Google Maps .
„Moderne Zeiten“ eben. Er hätte auch vier Meter vor die Tür gehen können, um
mir die Kreuzung zu zeigen. Trotzdem, fragen, suchen und letztlich finden,
darauf kommt es an.
In der „Calle Magdalena“ finde ich den Eingang
zur Herberge. Die Tür steht offen. Drin ist etwas diffuses Licht. Ich trete
ein, begrüße pauschal die Leute im Raum und suche eine Liege. Gegenüber schält
sich gerade ein müder Pilger aus seinem Schlafsack. Vorher habe ich nur die
runden Gläser seiner Nickelbrille blitzen sehen. Eine junge Frau ist damit
beschäftigt, Regensachen aus den Rucksäcken zu wühlen.
Sie stellen sich als Klaus und Patricia vor.
Die beiden kommen aus Baden-Baden, den Jakobsweg folgen sie ab dem Ort
Santander. Wir unterhalten uns über die bisherige Strecke und über das, was
unsere Füße leisten können. Klaus läuft die ganze Strecke barfuß. Für mich
unvorstellbar, für ihn ist das Barfußlaufen eine Lebensmaxime. In der
Muttersprache reden tut wirklich gut. Zum Hauptthema entwickelt sich die Musik,
nicht zuletzt, weil Klaus als Komponist und Musiker tätig ist. Weiteren Stoff
zur Unterhaltung liefern die Eukalyptuswälder, Komposthaufen, Wurzeln von
Parkbäumen, Bauern, Tonaufnahmen, Merseburg, der Dom, das „ Petrovsky Trio“, Leipzig.
Später kommt ein älterer Herr aus dem Ort in
die Herberge, um nach dem Rechten zu sehen. Klaus fragt ihn, ob er uns etwas in
der alten asturischen Sprache vorsingen oder erzählen
kann. Er hat ein hochwertiges Aufnahmegerät dabei und möchte auf dem Jakobsweg
Tonaufnahmen machen. Diese sollen dann später in ein musikalisches Projekt
eingewoben werden. Patricia spricht fließend Spanisch, somit klappt die
Kommunikation mit dem betagten Laienkünstler. Der Alte entschuldigt sich für
kurze Zeit und kommt mit mehreren handbeschriebenen Blättern wieder. In der
anderen Hand trägt er einen zwei Liter Kanister. Wie er sagt, beinhaltet der
Behälter selbst gebrannten Grappa. Er geht mit der Flasche rund und schenkt in
Plastikbechern seinen höchst merkwürdigen Trunk aus. Eine Verweigerung lässt er
nicht gelten. In Ermangelung eines Bechers, hole ich einen DDR
Camping-Klappbecher aus dem Rucksack hervor. Dieses Trinkgefäß ist ebenso
originell wie praktisch. Das großzügig angebotene Zeug schmeckt nach Zitrone
und Kaffee. Klaus meint: „So etwas gehört sonntags auf den Eisbecher.“ Der Asturier fängt an, etwas in seiner alten Sprache vorzutragen,
es handelt sich hierbei um eine nicht enden wollende Elyade .
Daran anschließend singt er, als Zugabe für diese kleine Pilgerrunde, noch ein
traditionelles asturisches Lied.
Im Raum herrscht eine Stimmung voller Freude
und Gleichklang. Hinzu gesellen sich noch zwei Italiener, zwei Dänen und zwei
Spanier. So gegen 22:15 Uhr knipst jemand das Licht aus und es wird pilgrig . Es ist eine Ferienlageratmosphäre entstanden, bloß
dass die Themen andere sind und wir ein paar Jahre älter. Vier Schnarcher lassen
mich schlecht schlafen, aber gut träumen.
Gute Nacht, Asturian Man.
Dienstag, 02.05.2006
Aviles -
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