Jetlag
auszupacken, als die Türglocke einen Kunden ankündigte.
Seufzend ließ Sonny den Stapel Pullover in die Kiste zurückfallen, den sie sich gerade auf den Arm geladen hatte und eilte in den Verkaufsraum. Keine halbe Minute später war sie wieder da.
"Da ist so ein Mann..." Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß sie sich für keine passendere Formulierung entscheiden konnte. "Na ja, eben ein Typ, der dich sprechen will. Er sagt, es sei dringend."
Claire ließ die Preisetiketten, die sie gerade beschriftete, im Stich und ging in den Laden hinaus, wo sie sich Bruno gegenübersah, der gerade interessiert eine Schaufensterpuppe studierte, die Sonny in ein hautenges Strickkleid gezwängt hatte.
"Gibt es Frauen, die so was tragen?" fragte Bruno, ohne sich umzudrehen.
Claire hob die Schultern.
"Ja, und meistens solche, die da gar nicht reinpassen." Sie trat näher. "Hallo Bruno", beschloß sie, den Stier bei den Hörnern zu packen. "Du kommst sicherlich wegen Melanie. Sie hat mir erzählt, daß sie Hals über Kopf abgehauen ist."
Endlich drehte Bruno sich um. Claire hatte sich immer gefragt, was die lebhafte, quirlige Mel an dem eher farblosen Bruno gefunden haben mochte. Im Gegensatz zu Mel war er nämlich ruhig, eher schon phlegmatisch, geduldig und froh, wenn man ihn in Ruhe ließ.
Andererseits hatte sich Claire gesagt, daß es wohl ungefähr dieselben Gründe sein mußten, die sie, Claire, an Bertram fesselten. Wenn man selbst zu spontanen Handlungen neigt und eher Hummeln im Allerwertesten hat, sucht man sich meistens einen Menschen, der das genaue Gegenteil verkörpert.
Bei Bruno hatte sich Melanie jedenfalls geborgen gefühlt. Er bewahrte sie vor allzu großen Torheiten und gab ihr das Gefühl, jederzeit für sie dazusein, wenn sie mal wieder irgendeinen Blödsinn angestellt hatte.
"Sie hat sich also bei dir gemeldet." Erleichterung klang aus Brunos Worten. "Ich habe schon in der halben Welt herumtelefoniert, aber daß sich Mel bei dir hören lassen würde, hatte ich nicht gedacht." Er hob die Schultern. "Du hattest sie ja schließlich ziemlich deutlich vor der Ehe mit mir gewarnt. Ich dachte, daß sie sich nicht die Blöße geben will, zuzugeben, daß du recht behalten hast."
Claire fuhr sich mit beiden Händen durch das honigblonde Haar.
"Hör zu, wir sollten das in Ruhe besprechen." Sie deutete mit einer einladenden Bewegung auf die Tür, die in den angrenzenden Aufenthaltsraum führte. Hier gab es eine Küche, in der man Kaffee kochen und eine gemütliche Sitzecke, in der man diesen dann in Ruhe trinken konnte.
"Paßt du mal auf den Laden auf!" rief sie im Vorbeigehen Sonny zu, die gerade die Pullover auspreiste. "Ich bin momentan nicht zu sprechen."
Bruno sank wie ein zum Tode Verurteilter auf die ausgeleierte Couch und stützte den Kopf in die Hände. Er wirkte auf einmal so elend, so verzweifelt, daß ihn Claire am liebsten in die Arme geschlossen und getröstet hätte. Aber sie waren sich nie so nahe gestanden, so daß sich Claire diese Geste jetzt nicht zu erlauben wagte.
Um ihre tatenlosen Hände irgendwie zu beschäftigen, ging Claire zur Anrichte und begann, Kaffee aufzubrühen.
"Hör mal zu", eröffnete sie das Gespräch, während das Wasser in die Kanne lief. "Um das ein für alle mal klarzustellen: Ich habe Melanie nie vor der Eheschließung mit DIR gewarnt, sondern immer nur vorm Heiraten an sich. Mel war und ist noch ein Kind. Ja, ich weiß, äußerlich ist sie eine Frau, eine verdammt hübsche und wohlgeratene sogar. Aber in ihrem Inneren, da ist sie das kleine Mädchen geblieben, das ich damals, vor immerhin - warte mal - neunzehn Jahren kennengelernt habe." Claire drehte den Hahn zu und schüttete das Wasser in den Tank der Kaffeemaschine. "Ich werde es nie vergessen. Mel hatte eine riesengroße Schultüte in den Armen und Schleifen im Haar, so groß wie ein Propeller. Ich dachte, bei einem kräftigen Windstoß würde sie abheben und einfach wie Pippi Langstrumpf davonfliegen. In Ordnung, die Zöpfe sind inzwischen weg, genauso wie die Propellerschleifen, aber ansonsten hat sich nicht viel geändert. In Mel steckt immer noch eine kleine Pippi, die nur Blödsinn im Kopf hat."
Bruno stieß einen Laut aus, der verdammt einem Schluchzen ähnelte und in Claire prompt ein flaues Gefühl im Magen auslöste. Hastig griff sie nach der alten Blechdose, in der sie den Kaffee aufbewahrte und begann, das Pulver in den Filter zu häufen.
Würziger Röstduft breitete sich in dem kleinen Raum
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