Jetlag
leicht indigniert die Brauen.
"Im allgemeinen trinken wir ja keinen Alkohol..."
"Aber in diesem Fall können wir doch mal eine Ausnahme machen, Mutter", mischte sich Bertram ein, der sein Präsent achtlos auf den Tisch gelegt hatte.
"Also gut, dann eben Sekt." Mit ihrer Zustimmung war Hilde-Marie über ihren Schatten gesprungen. Claire entfuhr ein erleichterter Seufzer, denn die Beschäftigung des Flasche Holens und Gläser-aus-dem-Schrank-nehmens enthob sie für mehrere Minuten der Verpflichtung, ihre anstrengenden Gäste unterhalten zu müssen.
Sie polierte die Gläser erst gründlich - immerhin hatten sie monatelang im Schrank gestanden - bevor sie sie ihren Besuchern präsentierte. Die Flasche servierte sie stilgerecht im Kühler auf Eis, mit einer Serviette drumherum.
"Nun erzähl mal, hat es sich wirklich rentiert, ganze drei Monate deinen Betrieb und uns im Stich zu lassen, um dich in einem vollkommen fremden Land herumzutreiben?" eröffnete Bertram die Runde, nachdem der Sekt in den frischpolierten, staubfreien Gläsern perlte.
Claire schluckte mühsam. Wieso konnte er nicht verstehen, daß sie mehr vom Leben erwartete, als eine vierzehntägige Reise in den Harz?!
"Die Boutique war bei Rita in den besten Händen", versetzte sie mit schlecht verholenem Ärger. "Und du bist vor Kummer auch nicht gestorben. Also gibt es keinen Grund, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Ansonsten kann ich nur sagen: Es hat sich gelohnt. Ich habe dort drüben die schönsten drei Monate meines Lebens verlebt."
"Aber es war doch alles ganz fremd", gab Hilde-Marie zu bedenken. "Die Menschen dort kleiden sich ganz anders, sprechen nicht deine Sprache, ernähren sich ungesund. Wie bist du damit zurechtgekommen?"
"Da es mir, obwohl ich eine Boutique besitze, vollkommen egal ist, wie die Menschen herumlaufen, ich leidlich Englisch spreche und sehr gut von Steak, Hamburgern und Salat leben kann, hat mir das alles nichts ausgemacht. Die Landschaft macht alles wieder wett. Sie ist einfach grandios. Solche Weiten, Höhen, Tiefen und Farben habe ich noch nie in meinem Leben gesehen."
Sie überwand ihren Groll und begann, den beiden ausführlich von ihrer Reise zu berichten. Dabei entstanden vor ihrem geistigen Auge erneut die wunderbaren Landschaften Arizonas, Wyomings und Colorados, die sie zum Teil mit Rucksack und Zelt, zum Teil per Jeep durchquert hatte.
"Wenn es sich irgendwie einrichten läßt, werde ich noch einmal hinüberfliegen", brachte Claire ihre Ausführungen schließlich zu einem Ende. "Es gibt dort noch so viel zu sehen, am liebsten wäre ich noch viel länger geblieben."
Einen Moment herrschte Schweigen im Raum, dann richtete sich Hilde-Marie auf und strich sich behutsam über ihr makellos frisiertes Haar.
"Nun ja, Berge und Täler haben wir hier auch."
Claire biß vor Zorn die Zähne zusammen.
"Wenn ich nur an unseren herrlichen Bayerischen Wald denke", pflichtete Bertram seiner Mutter bei. "Und an die Alpen - die sind mindestens so grandios wie deine Rocky Mountains."
Himmel, sie waren verdammte Ignoranten! Am liebsten hätte Claire alle beide gepackt und vor die Tür gestellt, aber wieder einmal fehlte ihr der Mut dazu. Wieso, zum Kuckuck, kann ich nicht einmal, nur ein einziges Mal den Mund aufmachen und "Raus!" brüllen? haderte sie mit sich selbst, während sie mühsam an ihrem Sekt schluckte.
Das Läuten des Telefons enthob sie aller weiteren Entscheidungen. Rasch stand sie auf und riß den Hörer ans Ohr.
"Darling!" Davids Stimme klang so nahe, als befände er sich nur zwei Häuser weit entfernt. "Bist du gut angekommen, ist alles okay?"
"Oh, ja, ja, es ist alles okay!" Claires Herz klopfte plötzlich hoch oben im Hals, wo es eigentlich gar nichts zu suchen hatte. "Ich hatte einen angenehmen Flug und bin gerade dabei, mich hier einzuleben. Aber ich glaube, es wird eine Weile dauern, ehe ich mich wieder richtig heimisch fühle. Momentan bin ich etwas durcheinander."
"Die Zeitumstellung wird dir noch eine ganze Weile zu schaffen machen", prophezeite David ernsthaft. Seine geliebte Stimme zu hören, weckte die alte, nagende Sehnsucht in Claire, die ihr noch deutlicher bewußt machte, wieviele Kilometer sie voneinander trennten. "Sieh zu, daß du dich in den kommenden Tagen nicht übernimmst. Der Jetlag kann einen ganz schön umhauen."
"Ja..." Aus den Augenwinkeln sah Claire, daß Hilde-Marie und ihr Sohn aufmerksam die Ohren spitzten. "Ja, ich werde deinen Rat befolgen."
"Claire...?" Allein die
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