Jim Knopf und die Wilde 13
die anderen Kinder
aus der Gefangenschaft beim Drachen befreit hatte, wie kühn er sogar der
schrecklichsten Gefahr gegenübertrat.
Nach dem Abendessen gingen sie zur
Bahnstation hinüber, wo die beiden kalfaterten Lokomotiven abfahrbereit
standen. Das Segel über Emmas Führerhäuschen bauschte sich bereits im Wind. Die
kleine Molly stand hinter ihr, durch einen langen, festen Strick mit der
Mutterlokomotive verbunden. Lukas kletterte zuerst noch einmal durch das
Kohlennachschubloch im Tender in das Innere von Emmas Führerhaus, um Jims
Rucksack, einige warme Decken, die Schachtel mit den Spielen und noch
verschiedenes andere zu verpacken. Auch nahm er diesmal vorsichtshalber ein
Ruder mit — für alle Fälle. Natürlich hatte Frau Waas noch ein großes Paket
Butterbrote und ein Dutzend hartgekochter Eier und anderen Reiseproviant
zurechtgemacht, den Lukas ebenfalls verstaute. Als das geschehen war, schoben
die beiden Freunde Emma vorsichtig zum Strand und ins Wasser hinein. Molly
planschte hinterdrein. Dann befestigten sie die große Lokomotive mit einem Tau
am Ufer.
Nun erschien, gefolgt von Herrn Ärmel,
König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, schüttelte Lukas und Jim die Hand und
sprach: „Meine sehr geehrten Untertanen! Ich bin außerordentlich ergriffen. Ich
kann euch gar nicht sagen, wie ergriffen ich bin. Ich bin so ergriffen, daß ich
gar nichts mehr sagen kann. Verzeiht mir darum, wenn ich schweige. Nur ein Wort
will ich euch zum Abschied mit auf die Reise geben: Die Vereinigten Staaten von
Lummerland und Neu-Lummerland blicken mit Stolz auf euch. Erweist euch dessen
würdig!“
Nach dieser Ansprache nahm er seine
Brille ab und putzte die Gläser mit seinem seidenen Taschentuch, denn sie waren
beschlagen. Frau Waas umarmte Jim und gab ihm einen Abschiedskuß und sagte:
„Jim, mein Liebling, sei bitte recht vorsichtig, hörst du? Und gib immer schön
acht auf dich. Versprich mir’s!“
Und dann fing sie zu weinen an, und nun
konnte auch Li Si nicht mehr länger an sich halten, sie fiel Jim um den Hals
und schluchzte: „Jim, lieber Jim, komm bald wieder! Bitte, kommt beide bald
wieder! Ich hab solche Angst um euch!“
Und schließlich erklärte auch Herr
Ärmel:
„Dieser Bitte unserer verehrten Damen
möchte ich mich auf das Nachdrücklichste anschließen!“
Worauf auch er sein Taschentuch
hervorzog und sich die Nase putzte, um sich nicht merken zu lassen, wie nahe
ihm dieser Abschied ging. Lukas stieß dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife und
knurrte:
„Keine Sorge, Leute, da haben wir schon
ganz andere Sachen gesund und munter überstanden. Komm, Jim, alter Junge, es
wird Zeit.“
Und er watete durch das seichte Wasser
zu Emma hinüber. Jim folgte ihm und schwang sich hinter seinem Freund auf das
Dach der großen Lokomotive. Sie warfen das Tau los, das Segel blähte sich im
Wind, der Mast ächzte leise, und das seltsame Schiff mit seinem kleinen
Lokomotiven-Beiboot im Schlepptau setzte sich in Bewegung. Die Zurückbleibenden
winkten mit ihren Taschentüchern und riefen immer wieder: „Auf Wiedersehen!
Alles Gute! Bleibt gesund! Schöne Reise und glückliche Rückkehr!“
Und auch Jim und Lukas winkten, bis
Lummerland mit seinen beiden ungleichen Gipfeln am Horizont verschwunden war.
Die untergehende Sonne spiegelte sich
im endlosen Ozean, der nun vor ihnen lag, und sie baute mit ihrem Licht eine
goldene, glitzernde Straße vom westlichen Horizont bis zum östlichen, und
mitten darin zogen die schwimmenden Lokomotiven ihre Bahn. Lukas hatte den Arm
um Jims Schulter gelegt, und die beiden Freunde schauten auf die funkelnde
Straße aus Licht, die sie in weite Fernen führen würde, vielleicht wieder in
unbekannte Länder und Erdteile, niemand konnte jetzt schon sagen wohin.
VIERTES KAPITEL
in dem die Reisenden eine seltsame Bekanntschaft machen,
die sie zu einem Abstecher ins Barbarische Meer veranlaßt
Die Sterne schimmerten schon am Himmel,
als die beiden Reisenden noch immer auf dem Dach ihrer schwimmenden Emma saßen
und plauderten.
„Ich bin gespannt, was Herr Tur Tur
sagt, wenn wir auf einmal wieder da sind“, meinte Jim, „ob er sich freut?“
„Darauf möchte ich wetten“, antwortete
Lukas und schmunzelte, „fragt sich nur, wie wir zu ihm hinkommen.“
„Ach ja, richtig“, sagte Jim und sah
ganz erschrocken aus, „wir können ja nicht mehr durch das ‚Tal der Dämmerung’
fahren, weil es das letzte Mal eingestürzt is’. Daran hab ich
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